Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Logroño nach Nájera

Tag 8 (Do, 5.5.2022) – Von Logroño nach Nájera

Es ist jetzt 18 Uhr, ich habe gerade im Supermarkt etwas Verpflegung besorgt und sitze jetzt in einem Park von Nájera, dem heutigen Etappenziel und schreib mal schon ein bisschen, bis die Sonne verschwindet und es bei dem permanent blasenden Wind zu kalt wird.

Ich bin heute schon um halb sieben losgelaufen, weil es in der Herberge nicht einmal einen Kaffeeautomaten gab. Die Herberge „Santiago Apostel“ ist überhaupt nicht zu empfehlen. Das ist wie gesagt ein großer Bau mit einem freitragenden Dach, gestützt von uralten Deckenbalken. Wenn man das ein bisschen geschickt beleuchten und zu dem vielen Weiß an den Wänden ein paar Farbtupfer oder vielleicht sogar Naturmaterial verbaut hätte, wäre das ein tolles Ambiente. Es war zwar nicht schmutzig, aber unordentlich und ziemlich lieblos. Der Aufenthaltsraum mit DDR-Kantinencharme, eine Mikrowelle und ein Grill, keine Küchenzeile, keine Automaten usw., abends lauwarmes Wasser, morgens nur kaltes. Da habe ich schon viel bessere gesehen und in Logroño sind bestimmt auch alle anderen besser. 12 € kann man da schon als Wucher bezeichnen.

Aber was soll’s, ich habe prima geschlafen und halb sechs auch noch ein freies Wasch­becken abbekommen. Die drei für Männlein und Weiblein vorgesehenen Waschbecken befinden sich übrigens vor einem riesigen Fenster, dem gegenüber ein Wohnblock steht. Die dortigen Bewohner kommen gut ohne Fernseher aus. Eine Italienerin ist zeitgleich mit mir laut schimpfend aus der Herberge raus, denn sie hat keinen Platz im Waschraum gefunden.

Die heutige Tour ist im Reiseführer als leicht ausgewiesen, da es nur ein paar Anstiege gibt, aber sie ist 29 km lang. Irgendwie bin ich heute nicht richtig in die Gänge gekommen und wieder allen hinterher gehumpelt. Es hat bestimmt eine Stunde gedauert, bis ich aus der Stadt raus war. Aber der Weg führte durch schöne Parkanlagen, in denen Kaninchen sowie rot- und dunkelbraune Eichhörnchen rumhüpfen. Hinter der Stadt geht der Park über in ein Erholungsgebiet rings um einen kleinen Stausee. Bis da lief es sich sehr gut und es gab viel zu sehen. Dann ging es aber doch ein ganzes Stück bergauf und auf einem Weg parallel zur Autobahn weiter. Das hat wieder geschlaucht und der Gedanke keimte auf, nicht bis Nájera, sondern nur 20 km bis Ventosa zu laufen.

Eine Aufmunterung war der von einem Eremiten (mit VW-Bus) betriebene Stand, in dem es frisches Obst, kleine Souvenirs, einen Pilgerstempel und wenn man der Sprache mächtig ist, auch ein Gespräch gab. Der Mann mit den langen weißen Haaren und dem langen Bart muss wohl eine Institution sein, denn andere erzählten mir schon von ihm. Ich habe ihm wenigstens eine weiße Pilgermuschel mit Aufdruck und Band abgekauft.

In Navarrete, dem ersten Ort hinter Longrono (10 km entfernt) war neben der grandiosen Kirche eine Bar, in der sich alle inzwischen längst Bekannte trafen, um einen Kaffee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Darunter auch die beiden Frauen aus Sachsen-Anhalt (Steffi aus Stendal und Katrin aus Tangermünde), die ich jeden Tag irgendwo getroffen habe, und Frank aus Dortmund, der mit Krücken unterwegs ist. Der hatte vor zwei Jahren eine Fuß-OP, voriges Jahr eine Hüfte-OP und bald ist das Knie dran. Er sagte, dass er das ohne Krücken auf keinen Fall schaffen würde. Hochachtung, dass er sich sowas traut! Auch Norbert aus Frankfurt (Main) habe ich dort getroffen. Auf dem Weg schon den irischen Schriftsteller und den Holländer mit dem ich im Palaco das Zimmer geteilt habe. Und natürlich viele andere, die einem schon mal begegnet sind. Darunter auch die junge Schweizerin, die vor zwei Tagen den Bus nehmen musste, weil die Füße voller Blasen waren. Sie hat in der Apotheke Pflaster und Salben bekommen, die geholfen haben und nun hat sie sich wieder aufgemacht und sogar wieder Anschluss an die Truppe gefunden. (Hier gibt es übrigens selbst in den kleinsten Dörfern Apothekenautomaten mit Pflaster u.ä.) Neben ihr saß Tina aus Köpenick, die bis Santiago durchsprinten wollte, aber inzwischen von einer Erkältung gebremst wurde. Die beiden haben dadurch das gleiche Schrittmaß gefunden und offenbar Freundschaft geschlossen, denn im nächsten Ort kamen sie zusammen an.

Eine Kirchenbesichtigung war in Navarrete ein Muss. Der vergoldete Altar mit unzähligen Plastiken füllte nicht nur den ganzen Chor einschließlich Gewölbe aus, sondern auch die Enden der Seitenschiffe. Um das fotografieren zu können, wollte ich sogar mal einen Euro für den Beleuchtungsautomaten springen lassen, aber der wollte meinen Euro nicht - hat ihn aber zum Glück nicht verschluckt. Nachdem ich im Halbdunkel die Kirche abgelaufen war, probierte ich es nochmal und plötzlich machte es plumps im Automaten und unzählige Münzen fielen in dessen Tiefe, was letztlich zur Erleuchtung führte. Hier waren bestimmt alle Pilger mal in der Kirche, denn jeder, der drin war, hat allen Vorbeikommenden erzählt, dass man da unbedingt mal rein muss.

Von Navarrete nach Ventosa, dem nächsten, knapp 10 km entfernten Ort, ging es wieder durch endlose Weinfelder. Ich bin in der Region Rioja und Rioja-Wein kenne ich selbst als Biertrinker. Die mitunter am Weg zu findenden Entfernungsangaben bis Santiago variieren mitunter recht stark. Meist sind die auf selbst gemalten Schildern angegebenen Entfernungen deutlich geringer, als die auf offiziellen Kilometersteinen. Besonders günstig waren sie meines Erachtens an den Bodegas, so nach dem Motto „Sie haben es ja bald geschafft, nehmen Sie doch schon mal eine Flasche Wein für die Siegesfeier mit!“

Kurz vor Ventosa saß einer am Wegesrand, der das Projekt „Musik in der Natur“ angestoßen hat und jetzt auf der Gitarre durchaus wohlklingende Pilgerlieder spielt, in der Hoffnung, dass ihm jemand was in die Mütze wirft. Da der sogar einen eigenen Pilgerstempel zu bieten hatte, hat er auch was bekommen.

Ventosa ist ein kleines Kaff und der Pilgerweg führt eigentlich daran vorbei. Aber die Bar am Ortseingang ist nicht nur weit sichtbar, sondern auch gut besucht. Ich habe (ca. 13 Uhr) beschlossen, hier eine größere Pause zu machen und dann zu entscheiden, ob ich weiterlaufe oder dort bleibe. Sicher gibt es hier eine Herberge, in Navarrete gab es mindestens 10. Ich habe mir in der Bar einen Kaffee und ein Bocadillo Chorizo bestellt. Gleich danach habe ich mich über die Bestellung geärgert, denn ich habe im Rucksack noch eine halbe Tüte Mini-Chorizos, die ich in Paris gekauft habe, und von denen ich zum Frühstück immer mal ein paar nehme. Außerdem habe ich einen halben Meter Dauerwurst dabei. Völliger Blödsinn, denn die müsste ich nicht über die Berge schleppen, sondern könnte ich überall kaufen. (Die habe ich gestern so stolz unterm Arm durch Logroño getragen, wie ein Franzose sein Baguette.) Als mir die Dame aus der Küche meine Bestellung in die Hand drückte, sah die irgendwie anders aus als erwartet. Die beiden Baguette-Hälften lagen nebeneinander. Eine war mit großen Käsescheiben und saftigem Schinken belegt, die andere mit zwei dünnen Fleischscheiben. Als Nichtsahnender habe ich vermutet, dass die Chorizo-Scheiben unter dem Schinken liegen und dass die Fleischscheiben auf „andere Leute, andere Sitten“ zurückzuführen sind. Als ich gerade genüsslich bei den letzten Bissen war, irrte der Kellner mit einem trockenen Baguette, aus dem ein paar Wurstscheiben herausschauten, durch den Saal. Jetzt kam bei mir der Verdacht auf, dass ich vielleicht was anderes gegessen habe, als vorgesehen war. Als der Kellner mit dem trocknen Wurstbrötchen bei mir landen wollte, habe ich ihm, ohne auch nur ein bisschen zu schwindeln, gesagt, dass ich schon bedient wurde und kein weiteres Baguette schaffe. Nun hoffe ich nur, dass da nicht noch ein Mitpilger auf der Terrasse sitzt, der auf sein Essen wartet.

Nach diesem Mahl, ein bisschen Rumsitzen und einem Getränk habe ich mich entschlossen, weiterzulaufen und nicht schlapp zu machen. Das ging auch plötzlich ganz leicht und ohne große Anstrengung kam ich nach Nájera, dem geplanten Etappenziel. Kurz vor dem Ziel habe ich Carson, eine Immobilienmakler aus North-Carolina getroffen, der 2019 schon mal mit seiner Frau den Camino gelaufen ist, aber aus Zeitgründen ein paar Etappen auslassen musste. Jetzt will er alles nochmal komplett laufen. Seine Frau kommt mit der erwachsenen Tochter nach Santiago geflogen und sie wollen dann zu dritt nach Fisterra und er mit seiner Frau noch bis Portugal laufen, während die Tochter zurück fliegt. Irgendwie haben die Amerikaner Geschmack am Jakobsweg gefunden. Eine ältere Dame aus San José (USA) hat mir gesagt, dass sie unbedingt nach Santiago will, weil sie in London, Amsterdam und anderen Städten immer wieder auf die Jakobsmuschel gestoßen ist.

Um das Ende kurz zu machen: ich habe in Nájera in der am Fluss gelegenen kommunalen Herberge eine der ca. 60 Schlafstellen bekommen. Alle Betten im Viererblock mit Zwischen­wänden in einem geräumigen Saal. Halbwegs gemütlicher Aufenthaltsraum, Küche und Kaffeeautomat und das alles auf Spendenbasis. Vorsorglich habe ich vorhin im Supermarkt eine Flasche eingepackt. Vielleicht/sicher findet sich in der Herberge noch jemand zum Quatschen.

Ein paar Personen habe ich noch vergessen. Und da jetzt zwischen Abendbrot und Schlafen (22 Uhr) noch etwas Zeit ist, will ich ein paar Sachen nachtragen. Die Italienerin, die morgens verärgert mit mir aus der Herberge raus ist, hat einen Schritt vorgelegt, dem ich nicht folgen konnte. Sie hat mich glatt abgehängt. Kurz vor Ventosa saß sie dann aber am Straßenrand und hat ihre Füße massiert. Hilfe wollte sie nicht, da konnte ich nur gute Besserung wünschen. Kurz vor Nájera, wo ich mit dem Amerikaner unterwegs war, saß sie wieder am Straßenrand, dieses Mal mit einen Fuß in den kleinen Bächlein, das neben dem Weg plätscherte. Wir haben angeboten, ihren Rucksack zu tragen, aber sie wollte keine Hilfe. Beim gegenseitigen Vorstellen stellte sich dann heraus, dass Marcella ganz gut Deutsch spricht. Da mussten wir beide lachen, weil wir uns in den zurückliegenden Tagen immer mit ein paar Brocken Englisch verständigt haben. Sie ist letztlich auch in dieser Herberge gelandet und da fiel mir die Entscheidung leicht, ob ich mich abends an dem spanischen oder den italienischen Tisch setze. An letzterem hatte ich nun mit Marcella wenigstens einen Dolmetscher.

Eine andere Begegnung waren zwei Österreicherinnen, die über Jahre in einzelnen Etappen von Österreich nach Spanien gelaufen sind, aber dann 9 Jahre pausieren mussten. Jetzt wollen sie ihren Weg nach Santiago fortsetzen und sind vor ein paar Tagen in Pamplona gestartet. In Ventosa fielen sie dadurch auf, dass sie unentwegt telefonisch in Nájera etwas reservieren wollten. Da sie selbst der Sprache unkundig sind, haben sie den englisch sprechenden Barkeeper in Beschlag genommen, um alle im Reiseführer genannten Nummern anzurufen. Letztendlich schlafen sie hier in der Herberge, eine Box weiter. Wer weiß, wie viele Gäste verdurstet sind, weil der Barkeeper anderweitig beschäftigt war.

Hier, in der kommunalen Herberge von Nájera haben noch bis auf den späten Abend Pilger eine Aufnahme gefunden. Das stimmt mich optimistisch.

Morgen geht es nach Santo Domingo de la Calzada, wo in der Kathedrale ein Hühnerkäfig ist und immer mal ein Krähen wahrgenommen werden kann. Ich freue mich schon!

Camino Francés / Finisterre - Tag 8