Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Carrión de los Condes nach Moratinos

Tag 16 (Fr, 13.5.2022) – Von Carrión de los Condes nach Moratinos (hinter Ledigos)

Es ist Freitag früh um 5 Uhr. Ich liege schon eine Weile wach und werde wohl nicht nochmal einschlafen. Am liebsten würde ich meinen Kram einpacken und losziehen, aber diese Unruhe will ich den anderen ersparen.

Es war diese Nacht eine muntere Seefahrt hier im Bett. Immer wenn sich die Dame im Unterdeck bewegte, schaukelte es bei mir oben ganz ordentlich. Ich kam mir vor wie ein Matrose im Mastkorb, wenn unten die Ladung ins Rollen kommt. Aber ich habe mich damit revanchiert, dass ich mehrmals nachts aufs Klo musste, was sicher jedes Mal die Dame unter mir in Schwingungen versetzt hat. Das Rauf- und Runterklettern aufs/vom Oberdeck war ohne Leiter übrigens gar nicht so einfach!

Geschnarcht wurde auch ordentlich, aber da will ich den Mund nicht zu weit aufreißen, da ich möglicherweise beteiligt war. Wenn das Bett durchgelegen ist und man sich nicht viel bewegen kann, dann bleibt nur die Rückenlage. Aber dank einer Decke, die flauschig weich wie ein Fußabtreter ist, habe ich nicht gefroren. Zwecks Lüftung steht die Tür einen Spalt offen, die Fenster haben die daneben liegenden Herrschaften der Kälte wegen zu gemacht.

Bzgl. Corona geht man hier davon aus, dass Luft, die nacheinander in 16 Lungen gefiltert wurde, anschließend keimfrei ist. Maskenträger sieht man höchstens mal im Geschäft ein paar. Unlängst kamen zwei Frauen mit Masken in die Bar um einen Kaffee zu bestellen, während der Wirt beim Zapfen kräftig in mein Bier hustete.

Was den Brandschutz anbetrifft, dann dürfte man bei uns in einem Raum wie diesen mit 16 Personen nicht einmal einen Hund einsperren. Kein Rauchmelder, die Fenster vergittert, mein Bett steht vorm Notausgang und an der Tür nach draußen ist eine Stufe, die mir fast bis zum Knie reicht. Aber würde man unsere Standards zur Pflicht machen, müsste die Hälfte der Herbergen schließen und der Rest müsste so viel umbauen, dass da keine 9 bis 12 € mehr denkbar wären. Man tut immer gut daran, vor dem Schlafengehen St. Florian mit ins Gebet zu nehmen („… verschone mein Haus, zünd‘ das andere an.“)

Gerade hat bei der Dame gegenüber der auf 5.20 Uhr gestellte Wecker geklingelt und jetzt leuchtet sie mit ihren Stirnscheinwerfer den ganzen Saal aus. Ganz leise geht das Packen auch nicht vonstatten. Dadurch hochgeschreckt schließen sich jetzt andere, offenbar auch die Dame unter mir, dem Früheinpackerwahn an. Das ist gut, da kann ich nachher einräumen, ohne auf jemand unter mir Rücksicht nehmen zu müssen. Gerade war mir, als ob sie mit ihrem Handtuch auf mich einschlägt, aber sie hat es wohl nur etwas schwungvoll zusammengelegt. Der Wurf mit der laut scheppernd zu Boden gehenden Seifendose galt hoffentlich auch nicht mir.

Wetten, dass alle, die unbedingt noch vor 6 Uhr (wenn es hier noch dunkel ist) aufbrechen, nachher um 14 Uhr gelangweilt am Zielort in der Herberge sitzen! Jetzt war eine Dame der Meinung, dass es 5.40 Uhr höchste Zeit sei, das Licht anzuschalten. Mir soll es Recht sein, dann kann ich jetzt ohne schlechtes Gewissen auch aufstehen und im Hellen packen.

Die Leute, die in Carrión de los Condes genächtigt haben, trafen sich fast alle um 7 Uhr in den Kneipen des Ortes zum Frühstück. Auch ich habe mir einen Frühstückskaffee geholt und dabei Sven und Julia getroffen, die auch in einer kirchlichen Herberge (St. Maria) genächtigt hatten und sehr zufrieden waren. Sie wurden freundlich von einer Ordensschwester begrüßt, bekamen ein kleines Geschenk und wurden regelrecht umsorgt. Sie hatte sogar Einzel- statt Doppelstockbetten. Abends kam die Nonne durch den Saal und hat gezählt, ob alle da sind. Man kann also nicht pauschal sagen, welche Herbergen gut und welche schlecht sind.

Die ersten Kilometer ging es entlang der Straße, 3 km schnurgeradeaus, wahlweise auf einem gewalzten Kiesweg, wie wir ihn aus den Parkanlagen kennen, einem gewalzten Schotterweg, der vermutlich für Radfahrer gedacht ist, oder auf dem breiten Seitenstreifen der Asphaltstraße. Das sah in etwa so aus wie die Rollator-Teststrecken im Kurpark oder die Schuh-Ausprobier-Stecken bei einem großen Outdoor-Handler.

Ich habe den Asphalt gewählt, zumal mir in den besagten 3 km (40 Minuten) kein Auto entgegen kam. Nach weiteren 2 km trennte sich der Weg von der Straße und verlief mit nur einem leichten Knick 12 km schnurgeradeaus bis zum ersten Ort. Der Weg war zwar teilweise mit Bäumen bestanden, die aber nicht vor der Sonne schütten konnten, weil die genau von hinten kam. Der Knick war auch nur deshalb in den Weg gebaut, damit die inzwischen weiter gezogene Sonne einem weiter auf den Pelz scheinen konnte. Das war schon eine mentale Herausforderung. Bis auf jene, die in Gruppen unterwegs waren und vom Anfang bis zum Ende was zu bereden hatten, hat eigentlich kaum jemand Gespräche gesucht. Alle liefen vor sich hin und waren in ihren Gedanken versunken. Manche durcheilten aber auch diese herausfordernde Strecke, vor allen jene die mit einem kleinen Beutelchen unterwegs sind und ihr Gepäck fahren lassen. Die schauen nicht nach links und rechts, sondern bestenfalls mal aufs Fitness-Armband, um zu sehen, wie gut sie sind. Die sind um Eins am Ziel und nehmen da die besten oder gar die letzten Schlafplätze weg. Wenn es nach mir ginge, was wieder mal nicht der Fall ist, dürften nur Fußgänger mit mindestens 8 kg auf dem Rücken in die Herbergen, ausgenommen vielleicht Alte, die den Weg mit Rucksack auf dem Rücken nicht mehr gehen könnten.

Wenn sich eine Lücke in der Menschenschlange auf den Weg ergab und Stumpfsinn drohte, habe ich bei YouTube mein Lieblingspilgerlied, das ich zu gegebener Zeit auch gern zu meiner Beerdigung hören möchte, aufgerufen: „Möge die Straße …“. Das habe ich 2…3 mal laufen lassen und hatte dann für ein paar Kilometer einen Ohrwurm im Kopf, der weitere Gedanken überflüssig machte. Der Videoclip zum Lied ist auch sehr eindrucksvoll, wenn man sich die immer mal eingeblendeten Interpreten, „Die Priester“, wegdenkt. Um Stürze zu vermeiden, habe ich mir diesen Clip aber diesmal nicht angeschaut.

Als ich gerade wieder die Musik hörte, rollte Frank auf seinem „Frankomobil“ vorbei, hat gestoppt, als er mich gesehen hat und wir haben einen Moment gequatscht und zum vermeintlich endgültigen Abschied das Lied zusammen gehört.

Dann war es aber schon wieder mit Ruhe und Einsamkeit vorbei. Drei Männer eines französischen Pilgervereins liefen um einige Meter versetzt und redeten so laut, dass sie sich trotzdem verstehen konnten. 50 Meter entfernt habe ich zwar nichts verstanden, aber alles gehört. Die Franzosen (und zunehmend Deutsche) haben hier die Rolle der englischen und italienischen Gruppen übernommen. Es ist plötzlich ein ganz anderes Publikum um einen herum, kaum noch Bekannte. In der letzten Nacht hatte ich auch drei Französinnen in meinem Zimmer. Das klingt verlockend, war aber ziemlich nervig, zumal die um 5.30 Uhr, als alle mit ihren Flak-Scheinwerfern auf der Stirn versuchten, leise zu packen, lautstark ein Gespräch anfingen, eine mit einer Stimme, die exakt jener der Staatsanwältin im Tatort aus Münster entsprach. Die habe ich dann auch später beim Rauchen auf der Toilette erwischt.

Kurz vor dem Ende der Trostlosigkeit gab es am Weg einen teilweise überdachten Rastplatz, an dem auch einer aus einem kleinen LKW heraus Cola, Obst etc. auf Spendenbasis abgab. Ich brauchte nichts, da ich reichlich zu Trinken und noch Reste vom Abendbrot (Wurst, Käse, Brot) dabei hatte. Ich habe aber gern eine Pause gemacht. Die konnten sich aber nicht alle leisten, weil das schlecht für die Laufstatistik ist. Vorbei gezogen sind vor allem jene, denen Schläuche aus dem Rucksack kamen und irgendwo in Kinnhöhe baumelten. Durch die konnten sie beim Laufen ohne Zeitverzug was trinken. Das mag ja praktisch sein, sah aber aus wie Intensivpatienten beim Freigang.

Am Ende der Mordstour wartete ein kleiner Ort (Calzadilla de la Cueza) mit einer riesigen Kneipenterrasse, wo wohl alle Halt gemacht haben. Dort traf ich doch noch mal Frank. Wir haben zusammen ein Bier getrunken und sind dann zeitgleich weiter.

Ab da ging es sieben Kilometer zwar leicht, aber permanent bergauf, immer auf einem separaten Weg entlang der kaum befahrenen Straße. Dann war das eigentliche Tagesziel, Ledigos, erreicht. Dort wollte ich aber um zwei noch nicht Schluss machen, sondern bin nach einem kurzen Barbesuch weiter. Im nächsten Dorf nach ca. 4 km gab es zwei schöne Herbergen, aber die waren beide voll bzw. ausgebucht. Zwei Kilometer weiter, in Moratinos, hat in einer schönen Herberge der Wirt seine Buchungen so lange hin und her geschoben, bis für mich ein Bett blieb. Hier bin ich jetzt in einen 6-Mann-Zimmer und liege auf meinem 10-Euro-Bett (diesmal Unterdeck). Gleich gibt es Abendessen, wie hier überall üblich ein dreigängiges Pilgermenü für 12 €. Vorher will ich aber das hier noch schnell abschicken.

Camino Francés / Finisterre - Tag 16