Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Ribadiso de Abaixo nach Santiago de Compostela

Tag 30 (Fr, 27.5.2022) – Von Ribadiso de Abaixo nach Santiago de Compostela

Das Wichtigste habe ich ja schon mitgeteilt: ich bin in Santiago angekommen. Ich bin sehr froh darüber und danke Euch allen für Eure Anteilnahme und die Lobpreisungen.

Ich hatte mir für heute vorgenommen, ein paar Kilometer vor Santiago Quartier zu nehmen und dann am Sonnabend hier einzurücken. Aber ganz weit im Hinterkopf war schon der Wunsch da, vielleicht schon heute anzukommen, allein am späten Nachmittag, statt morgen mit einer großen Horde.

Hier in Galizien stehen alle 300 Meter „Kilometersteine“ mit der Entfernung nach Santiago, auf den Meter genau - wenn nicht Souvenirjäger oder Schrotthändler die Bronzeplaketten geklaut haben. Man hat also am Wegesrand den Countdown zu laufen. Als ich zum Mittag bei „noch 20 km“ war, keimte Hoffnung auf, es vielleicht wirklich zu schaffen. Was sind schon 20 km, die sollten doch an einem Nachmittag zu schaffen sein. Dass ich da schon 23 km gelaufen war, habe ich da einfach ausgeblendet.

Eigentlich wollte ich morgens schon sehr zeitig los, um wenigstens die drei Kilometer, die ich vor dem eigentlichen Etappenort Arzúa genächtigt habe, bis zur üblichen Aufbruchszeit aufzuholen. Aber ich habe bis halb sechs geschlafen, was dafür spricht, dass die Herberge und die Betten sehr gut waren. Da ich schon am Abend gepackt, meine Tablette bereits in einem szenetypischen Tütchen gesammelt und alle morgens benötigten Sachen auf einem (sehr seltenen) kleinen Tisch ausgebreitet hatte, ging es morgens schnell.

Um sechs war ich in der Spur. Frühstück habe ich unterwegs an einem Imbiss genommen. Die Spiegeleier mit Bacon waren gut, der Kaffee jedoch miserabel. Aber ich war aufgeregt genug und musste deshalb nicht irgendwo noch einen zweiten Kaffee fassen.

Unter den Pilgern, von denen man überholt wird, waren heute besonders viele Radfahrer, meist auf gewaltigen Mountainbikes. Manche mit elektrischer Unterstützung, aber die meisten ohne. Es ist aber auch schon wiederholt einer an mir vorbeigezogen, der auf so einem zusammenklappbaren Mini-Fahrrad unterwegs ist, das man sich zusammengeklappt unter den Arm klemmen kann. Den Vogel hat heute ein Ehepaar angeschossen, das mittels Sprechfunk miteinander verbunden war, jeder mit einem Headset unterm Helm und hinten am Helm einen Sender mit Antenne. Wer weiß, ob die zuhause miteinander reden, hier können sie es beim Radfahren.

Der Weg führte an einer Gartenkneipe vorbei, bei der ringsum alle Bäume und was sonst noch aus Holz war, mit Nägeln gespickt war, auf denen beschriftete Flaschen steckten. Ich habe mir erklären lassen, dass man auf die hier verzehrten Bierflaschen mit einem speziellen Stift drei Wünsche schreiben und die Flasche dann auf einen der Nägel platzieren kann. Das ergibt interessante Glasinstallationen. Ich habe mich daran nicht beteiligt, denn wenn ich eine Bierflasche in der Hand halte, ist ja schon mal der erste Wunsch erfüllt und der nach einer zweiten (hier wie in Frankreich winzig kleinen) Flasche findet auch schnell Erfüllung. Bleibt also ein Wunsch übrig. Muss ich den dann auf beide Flaschen schreiben? Das ist mir zu kompliziert, da mache ich nicht mit.

Außerdem war es noch vor 10 Uhr, da gibt es bei mir auch auf dem Camino kein Bier. Etwa am 20-km-Stein grüßte ein Italiener (Oscar) ganz freundlich. Ich hatte ihn schon mal gesehen, konnte ihn aber nicht einordnen. Er erzählte, dass er mit mir am 28.4. in Saint Jean gestartet ist und das ich ihm auf die Frage, warum ich so viel fotografiere, geantwortet habe, dass ich eine große Familie habe und jeder ein Bild geschickt haben will. Der Witz hat also gesessen und ist in Erinnerung geblieben - passiert mir selten.

Am 20-km-Stein fühlte ich mich noch ganz frisch. Die immer noch blasenfreien Füße haben mitgespielt, den Schmerz in den Knien habe ich ausgeblendet und der Rücken tat mir nur weh, wenn ich den Rucksack abgesetzt habe, weshalb ich mitunter samt Rucksack an der Theke stehen geblieben bin, statt mich ohne Rucksack zu setzen - das sieht auch viel sportlicher aus. Geschmerzt hat heute wie an den letzten Tagen vor allem die Schulter. Die Polster unter den Tragegurten rollen sich immer zusammen und dann schneiden sich die Gurte wie Stahltrossen in die Schulterblätter. Da muss ich mir was einfallen. Vielleicht eine Schwimmnudel im Nacken, die über beide Schultern reicht und darauf dann der Rucksack. Das hilft bestimmt, sieht aber sicher doof aus. Muss ich mal vorm Spiegel testen.

Bei einer Rast habe ich mich mit meinem Getränk zu drei Mädels gesetzt, die Deutsch miteinander redeten. Eine davon hatte ich schon wiederholt gesehen. Sie hat sich als Andrea aus Lübben im Spreewald vorgestellt und erzählt, dass sie im Spreewald fleißig das Wandern trainiert hat. Sie musste aber zugeben, dass dabei das Bergtraining etwas kurz gekommen ist. Am Nachbartisch saßen Kim und Helen aus Saarbrücken, beide geschätzt Mitte zwanzig. Kim ist in Frankreich in Le Puy gestartet, hatte also in Saint Jean, wo ich los bin, schon 750 km in den Beinen. Von ihr habe ich ein paar Tipps für diese von vielen so gelobte Strecke bekommen. Ihre Freundin Helen ist 40 km vor Sarria dazu gestoßen, zusammen wollen sie jetzt mindestens bis Santiago.

In einer Bar namens „Kilometer 15“, die laut Kilometerstein bei 16,3 km steht, habe ich noch was gegessen, denn nun war ich so weit, bis Santiago zu laufen. Es ist unglaublich, welche Kräfte man freisetzen kann, wenn man unbedingt ein Ziel erreichen will. Und ein bisschen Gottvertrauen schadet dabei auch nicht.

Gegen 14 Uhr kam ich am Flughafen von Santiago vorbei, wo man offensichtlich viel Erde bewegen musste, um eine gerade Start-/Landebahn hinzubekommen. Kurz bevor ich da war und kurz danach hat ein Flugzeug abgehoben, laut Flightradar24 ging letzteres nach Barcelona. Ab hier waren es noch fast 10 km bis an die Stadtgrenze und dann in der großen Stadt nochmal 4 km bis zur Kathedrale. Kurz vor der Stadt ist eine riesige Herberge mit 30 Baracken, jede geschätzt mit mindestens 50 Betten. Dagegen ist jedes Notaufnahmelager eine winzige Absteige. Sieht aus wie ein ganz modernes Kriegsgefangenenlager. Bis hier her hätte ich zurück gemusst, wenn ich in der Stadt nichts gefunden hätte.

Ich habe ab dem Nachmittag nur noch das Ziel gehabt, anzukommen. Deshalb habe ich auch bei den Herbergen am Weg nicht nach freien Plätzen gefragt, sondern bin erstmal nur gelaufen, bis ich vor der Kathedrale stand. Ein erhebendes Gefühl und außer mir haben da auch viele andere geheult. Nun war das Ziel erreicht, im wahrsten Sinne des Wortes „Gott sei Dank“.

Ich bin also heute erstmal bis zur Kathedrale gelaufen, ohne mich um ein Quartier zu bemühen. Ich hätte es durchaus akzeptiert, die halbe Nacht auf den Stufen der Kathedrale und die zweite Hälfte im (vermutlich warmen) Polizeirevier zuzubringen. Nach dem Besuch des Platzes vor der Kathedrale bin ich zum Pilgerbüro geeilt, in der Hoffnung, dort noch vor Ladenschluss um 19 Uhr die Urkunde abholen zu können. Aber man muss sich da erst via Internet registrieren und bekommt dann am nächsten Tag eine Nummer. Als die Registrierung mit Hilfe eines freundlichen Türstehers erfolgt war, bin ich auf Quartiersuche gegangen. In der Innenstadt gibt es zwar einige Herbergen, aber die waren natürlich alle längst voll. Ausgeschildert war in der Stadt eine Riesenherberge „Seminario Menores“. Das ist ein ziemlich weit von der Innenstadt gelegenes riesiges Gebäude mit weit über hundert Betten. An der Tür stand schon „Full“, der Mann an der Rezeption hat sich trotzdem bemüht, noch was zu finden. Aber wer dort über Booking.com gebucht hat, kann auch noch mitten in der Nacht kommen.

Auf dem Weg zu der Massenunterkunft war ich an einem Don-Bosco-Heim vorbeigekommen, das (so zumindest in Berlin) problematischen Jugendlichen Unterkunft und Beschäftigung bietet. Ich habe einfach mal gefragt, ob ich dort schlafen kann. Das junge Mädel im Büro hat mich nicht gleich rausgeschmissen, sondern versucht, ihren Chef zu finden bzw. anzurufen. Ihr Bemühen war wirklich sehr herzlich. Der Chef, den sie dann irgendwann telefonisch erreicht hat, konnte mir zwar keine Unterkunft bieten, hatte aber noch ein paar Tipps parat.

Wieder auf der Hauptstraße angekommen habe ich noch ein paar Herbergen inklusive einer namens „Sixtos“ abgeklappert. Aber entweder waren die seit 20 Uhr geschlossen oder voll. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, die 3 km bis zur Riesenherberge zurück zu gehen, die sicher lange offen ist. Für den Weg dorthin wollte ich mir aber noch in der Bar „Londres“ Wegzehrung holen. Prophylaktisch habe ich den Wirt nach einer Bleibe gefragt, worauf der sofort zu telefonieren begann. Dann hat er das an seine Kellnerin weitergegeben, die sich zu mir setzte, alle möglichen Webseiten aufrief und diverse Herbergen anrief.

Dann kam der Wirt des Sixtos dazu. Als er mitbekam, dass ich noch immer keine Bleibe hatte und alle erfolglos herum telefonierten, nahm er selbst das Smartphone raus und telefonierte. Wie ich später mitbekommen habe, hat er die Leute angerufen, sie reserviert hatten aber noch nicht gekommen waren. Dann forderte er mich auf mitzukommen und ohne sein Bier getrunken zu haben ist er mit mir zurück zu seiner Herberge. Einer der reserviert hatte, hat sich nicht gemeldet und da es nach 20 Uhr war, hat er mir dessen Bett gegeben.

Es ist eine wirklich komfortable Herberge mit einem sehr gemütlichen Aufenthaltsraum, Betten in Kojen mit Vorhang, jede mit Licht, Steckdose und USB, dazu bezogene Betten, womit der Schlafsack im Rucksack bleiben kann. Die geforderten 17 € sind da völlig ok. Ob ich hier eine zweite Nacht bleiben kann, entscheidet sich erst morgen früh.

Ich liege jetzt in meiner Nobelkoje und werde morgen berichten, wie es weitergegangen ist.

Camino Francés / Finisterre - Tag 30