Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Santiago de Compostela

Tag 31 (Sa, 28.5.2022) – Santiago de Compostela

Der nette Wirt meiner Herberge hat mir gestern Abend noch empfohlen, heute seinen Bruder, der ihn ablöst, zu fragen, ob für nächste Nacht auch was frei ist. Er hat gesucht und gefunden. Ich musste zwar mein Zeug einpacken, damit saubergemacht werden kann, und den Rucksack an der Rezeption abstellen. In der nächsten Nacht habe ich Oberdeck, aber bei dieser Bettenkonstruktion kann eigentlich nichts wackeln.

Von Sonntag zu Montag was zu finden, scheint kein Problem zu sein. Ich werde aber nichts buchen, vielleicht klappt es in der jetzigen Herberge noch ein drittes Mal.

Ich war heute kurz nach 9 vor dem Pilgerbüro, wo um die Ecke herum eine Schlange stand, als ob es Westschallplatten gibt. Die Schlange rückte recht schnell vorwärts, was aber nur daran lag, dass man drinnen erstmal eine Nummer ziehen musste. Jetzt geht es weiter wie auf dem Arbeitsamt oder beim Stütze-Beantragen. Die Leute sitzen hier in einem Raum mit eindrucksvollem Gewölbe oder davor im Garten und ein Mädel mit gewaltiger Stimme ruft alle 2 Minuten auf Englisch aus, dass man sich irgendwo die Treppe hoch begeben muss, wenn sich die angezeigte Nummer der eigenen nähert. Ich habe die 134, angezeigt wird gerade die 100. Kann also noch etwas dauern. Es ist gleich um zehn, mit der Pilgermesse um 10.30 Uhr wird das wohl heute nichts werden. Ich hoffe, dass ich Morgen reinkomme, wenn (vermutlich) das Weihrauchfass geschwungen wird.

Ich habe in der Warteschlange schon ein paar Bekannte getroffen, zum Beispiel Henry, der auch gestern schon angekommen ist und mit dem ich mich auf ein Bier verabredet habe. Gerade angekommen sind Kim und Helen. Kim ist wie schon erzählt in Le Puy gestartet und hat jetzt etwa 1550 km hinter sich.

2 Stunden später: Der englische Gottesdienst, zu dem Ich wollte, war gar nicht in der Kathedrale, sondern im Pilgerzentrum, wo ich herkam. Aber in der Kathedrale gab es um 12 Uhr einen Gottesdienst - ob mit oder ohne Weihrauch wollte mir der Herr vom Sicherheits­dienst nicht sagen. Bis dahin war noch viel Zeit, darum habe ich mich nach dem Rundgang durch die Kathedrale in eine Seitenkapelle gesetzt. Da begann kurz darauf ein ganz normaler Gottesdienst. Da wollte ich mich nicht heimlich rausschleichen. Heimlich wäre eh nicht gegangen, weil ich in der ersten Reihe saß und sicher schon aufgefallen war, weil ich laufend eingenickt bin.

Als ich dann halb 12 wieder in die Kathedrale kam, waren da schon sämtliche Plätze besetzt und auch Stehplätze mit Sicht nach vorn waren schon rar. Obwohl es keinen besonderen Anlass gab, war es ein sehr feierlicher Gottesdienst mit Bischof und vielen Mitzelebranten. Davor haben drei Pilgerbetreuer (deutsch, französisch, italienisch) ihre Angebote vorgestellt und eine relativ junge Ordensschwester hat schon mal die Lieder angestimmt. Am Ende der recht langen Messe kam dann das, was vermutlich die Mehrzahl der Leute in die Kirche gelockt hat: das fliegende Weihrauchfass. Sieben Männer haben es an einem Seil kurz über dem Boden gehalten und ein achter hat es in Schwung gesetzt. Dann haben alle acht so geschickt am Seil gezogen, dass das Weihrauchfass immer mehr Schwung bekam und fast bis in die Waagerechte schwang. Das war wirklich eindrucksvoll und danach gab es auch reichlich Applaus.

Den ganzen Nachmittag über bin ich mehr oder weniger ziellos durch die verwinkelten Gassen der Altstadt von Santiago gelaufen, Freunde und Schatten suchend. Von Ersteren habe ich eine Menge gefunden: Henry, Dirk, Thomas aus St. Etienne (von dem ich noch erzählen muss), Hagen, Tina, Romana und Inge, Jenny mit Torben und Henning, Kim und Helen und zum Schluss Johann, den ich wegen seines gezwirbelten Schnurbartes versehentlich als Wilhelm begrüßt habe. Das ist der Radfahrer aus Wülfrath, der mal in meinem Zimmer war. Er ist 2900 km hier her geradelt und wollte eigentlich auch zurück radeln. Aber da er früher als geplant zu Hause sein muss, hat er gerade sein Fahrrad bei der Post aufgegeben und wird in ein paar Tagen mit dem Flixbus nach Hause fahren.

Schatten habe ich in der Stadt nicht so viel gefunden, aber wenn sich mal eine schattige Sitzgelegenheit bot, habe ich die genutzt und sogar mal ein paar Minuten die Augen zugemacht. Ich hätte es wie Henry machen und nach dem Gottesdienst zum Mittagsschlaf in die Herberge gehen sollen. Ich habe mich ganzschön gequält, denn Sonne und Müdigkeit, die jetzt von den letzten Tagen nachkam, sind für mich eine schlechte Kombination.

Eigentlich wollte ich auch noch den Sonntag in Santiago bleiben, aber es ist mir hier einfach zu voll und zu laut. Hier treffen sich ja nicht nur die Pilger, die auf allen möglichen Wegen hier her gekommen sind, sondern auch unzählige Pilgergruppen, die mit dem Bus gekommen sind und die man leicht an ihren jeweils einheitlichen „Pioniertüchern“ erkennt. Dazu die vielen Busladungen an Tagestouristen, immer voran ein laut erzählender Reiseführer. Es ist ja wirklich schön und eindrucksvoll, auf dem Platz vor der Kathedrale zu sitzen (wofür es leider nur den Erdboden gibt) und den Begrüßungen neuer Pilger zuzusehen. Aber das Hallo ist oft so laut, dass man es bis in die Kathedrale hört. Ich werde mich deshalb doch schon morgen (Sonntag) auf den Weg zum Kap Finisterre begeben.

Camino Francés / Finisterre - Tag 31