Wilsnackfahrt (Mittelalterlicher Pilgerweg von Berlin nach Bad Wilsnack)
Von Hennigsdorf nach Flatow

Tag 2 (So, 21.8.2022) Von Hennigsdorf nach Flatow

Es ist Sonntag, der 21. August. Heute steht die Etappe Hennigsdorf - Flatow auf dem Programm. Der Tag begann mit 4,5 km Fußweg von Mehrow zur S-Bahn nach Ahrensfelde. Der 197er Bus, mit dem ich ab dem Kletterfelsen hätte abkürzen können, war leider gerade weg. Trotzdem hätte ich fast die S-Bahn 20 Minuten vor der geplanten geschafft.

Leider bin ich erst auf dem Bahnhof auf die Idee gekommen, die VBB-Fahrinfo aufzurufen, eigentlich nur um zu sehen, ob ich mich am Bahnhof Friedrichstraße beim Umsteigen beeilen muss. Die Fahrinfo sagte mir nämlich, dass ich vom Barnimplatz mit der Straßenbahn bis zur Landsberger und mit der S 8 zur Bornholmer Straße viel schneller wäre und dort sogar eine Bahn früher nach Hennigsdorf schaffen würde. So wäre ich 20 Minuten früher am Startpunkt. Nach dem Trägheitsprinzip bleibe ich jedoch in der gerade bestiegenen S-Bahn sitzen und ärgere mich nur, weil ich ja am Barnimplatz vorbei gekommen bin, aber die Straßenbahn-Variante gar nicht auf dem Schirm hatte.

Ob diese Variante in der Praxis geklappt hätte, ist allerdings fraglich, weil wegen eines Stellwerkschadens (Kabelklau) Schienenersatzverkehr von Bornholmer Straße in Richtung Buch angesagt ist und die S 8 (die deshalb Bornholmer Straße endet) vielleicht gar nicht pünktlich gewesen wäre. Egal, jetzt sitze ich in der S 25 und werde (hoffentlich) wie geplant um halb 10 in Hennigsdorf sein, wo sich der aus Frankfurt (Oder) kommende Jakobsweg und der Weg nach Bad Wilsnack kreuzen.

Ab Bötzow (knapp 6 km hinter Hennigsdorf) geht es die restlichen 20 km bis Flatow fast schnurgerade auf der alten Hamburger Poststraße durch den Krämer Forst. Ganz langweilig wird es wohl nicht werden, weil dort laut Landkarte alle Viertelmeile, also knapp 2 km, Postmeilensteine stehen. (1 Preußische Meile = 7,5 km).

Die S 25 kam pünktlich in Hennigsdorf an. Wenn man die Treppe vom Bahnsteig runterkommt, ist man praktisch schon auf dem Pilgerweg.

Ich bin in Fahrtrichtung links raus aus dem Bahnhof, über den Bahnhofsvorplatz und durch eine Fußgängerzone (Havelpassage) zum Havelplatz. Hinter der Fontanestraẞe geht es dann durch eine langgestreckte Parkanlage, „Stadtpark Konradsberg“ genannt. Eine Infotafel klärt auf, dass es sich bei den kleinen Hügeln im Park um die Reste einer ehemaligen Binnendüne handelt.

Hinter dem Park, in dem es einen Trimm-Dich-Pfad mit allen möglichen Folterinstrumenten gibt, trifft man auf den Friedhof. Es geht geradeaus weiter, immer am Friedhofszaun entlang und dann in den Wald hinein. Dort trifft man gleich auf einen Postmeilenstein, besser gesagt, auf die Nachbildung eines Viertelmeilensteins von 1803/1804. Daneben ein Schild mit einer kurzen Historie der Alten Hamburger Poststraße und Ansichten der seinerzeit gebräuchlichen Ganz-, Halb- und Viertelmeilensteine.

Der Weg nach Bad Wilsnack ist sehr großzügig ausgeschildert: mit Aufklebern oder Schildchen, die das Wilsnacker Pilgerzeichen, drei Hostien mit zwei Kreuzen darüber zeigen. Dieses Zeichen verweist auf ein angebliches Wunder, das Wilsnack zu einem Wallfahrtsort bzw. Pilgerziel im gleichen Rang wie Rom oder Santiago gemacht hat. Ende des 14. Jahrhunderts wurde Wilsnack samt Kirche niedergebrannt und einige Tage später hat man drei unversehrte Hostien gefunden, die vermeintliche Blutstropfen trugen. Damit war die Wunderblutlegende geboren, die bis zur Reformation, etwa 150 Jahre lang, zig Tausende Pilger nach Wilsnack gezogen hat.

Das Symbol mit den im Dreieck angeordneten Hostien findet man auch stark vereinfacht, aber aus der Ferne gut erkennbar, in Form von drei gelben, im Dreieck angeordneten Punkten an den Bäumen.

In jüngster Zeit hat man den Pilgerweg Berlin-Wilsnack auch in das Netz der Jakobswege aufgenommen und zwar als Teilstück eines vermeintlichen Jakobsweges von Berlin über Wilsnack nach Tangermünde. Deshalb findet man vielfach zusätzlich das Jakobsweg-Symbol, die gelbe Muschel auf blauem Grund am Wegesrand. Das hat gleich zwei Vorteile: Da die Jakobswegaufkleber jüngeren Datums sind, kann man diese besser erkennen, als die mitunter schon ausgeblichenen Wilsnackweg-Aufkleber. Außerdem erspart das Muschel­symbol, wenn es denn richtig aufgeklebt ist, den zusätzlichen Pfeil. Das Herz der Muschel zeigt immer in die Richtung, in die man laufen muss.

Der Weg führt etwa 2 km durch den Wald und stößt rechtwinklig auf die Schönwalder Straße, die hier über die Eisenbahn führt und deshalb so hoch liegt, dass der Weg über eine lange Rampe auf die Straße geleitet werden muss. Es geht ein Stück entlang der Straße und dann nach links in die Bötzower Aue. Dort steht die Dorfkirche, eine alte, teilweise verputzte Feldsteinkirche mit einer hölzernen Haube auf dem Turm. Als ich um die Kirche herumschleiche, kommt der Pfarrer auf mich zu und bietet mir an, die Kirche aufzuschließen. Das nehme ich gern an, nicht nur weil mich das Innere interessiert. Irgendwo in Wald kam mir der Gedanke, dass es doch angebracht gewesen wäre, die Pilgertour in einer Kirche beginnen zu lassen. Wie mir das Internet verrät, wäre es in Hennigsdorf nur ein kleiner Umweg zur katholischen Kirche „Zu den Schutzengeln“ (von denen man ja nicht genug haben kann) gewesen und die Kirchentür hätte bestimmt offen gestanden, weil dort für 10.45 Uhr ein Gottesdienst mit Erstkommunion angesetzt war. Ich habe mich geärgert, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, in Hennigsdorf eine Kirche anzusteuern. Zum Umkehren war es zu spät.

Aber nun kam die Entschädigung. Der Pfarrer brachte den Schlüssel zur Bötzower Kirche, erzählte mir noch was zur Geschichte, zeigte mir ein paar interessante Details und verschwand dann unter vielmaliger Entschuldigung, weil um 14 Uhr ein Gottesdienst mit „Goldener Konfirmation“ angesetzt war und er sich noch vorbereiten musste. Ich sollte mir alles in Ruhe anschauen und könnte auf eigene Gefahr im Turm so weit hochsteigen, wie ich komme. Das war für mich die Turmhaube, die aus ihren vier kleinen Fenstern einen guten Rundumblick erlaubte. Unten im Turm war ein Gedächtnisraum eingerichtet, an dessen Wänden Tafeln mit den Namen der in den Kriegen 1813/15, 1866 und 1870 gefallenen Bötzower hingen. An der Decke hing ein großer eiserner Kronleuchter mit vielen Kerzen. Unter jeder Kerze hing ein Schild mit den Namen und Daten eines in Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Das war sehr eindrucksvoll.

Hinter Bötzow ging es ein kleines Stück entlang der Landstraße, vorbei an mehreren Pferdekoppeln und dann rechts ab in den Wald. Auf gut begehbaren gewalzten oder mit Split versehenen Wegen ging es etwa 15 km fast geradeaus durch den Wald, teils Nadel-, teils Laubwald oder einem Mix von Beidem. In jedem Fall war der Weg von sehr stattlichen Bäumen gesäumt, insbesondere am Anfang, wo riesige Eichen am Wegesrand standen und ihre Äste über den Weg streckten. Zusammen mit milden 25 Grad und ein paar Wolken ergab das fast perfekte Wanderbedingungen.

Der Weg läuft eigentlich direkt auf den Abzweig der A 24 (nach Rostock) von der A 10 (Berliner Ring) zu. Die Ausschilderung weicht hier deutlich vom GPS-Track ab, den ich heruntergeladen habe und zur Navigation benutze. Im Track geht der Weg mehrfach ganz dicht an der Autobahn entlang. Das entfällt jetzt, dafür ist der Weg nun ein Stück länger. Es geht zunächst auf einer Fußgängerbrücke über die A 10, dann weiter geradeaus bis nach Tietzow und dort scharf rechts auf einen asphaltierten, aber löchrigen Weg, der zu einer Fußgängerbrücke über die A 24 führt. Von da sind es nur noch ein paar Meter zur Alten Poststraße, die sich als Hauptstraße durch Flatow zieht. Da biege ich links ab und stehe nach etwa 400 m vor dem Pfarrhaus. Auf die Gartentür gelehnt wartet dort Herr Kowalke, der Vorsitzende des Gemeindekirchenrates, bei dem ich mich angemeldet habe und der vor einer halben Stunde angefragt hatte, wie weit ich denn sei. Der hat mir das Gemeindehaus aufgeschlossen und gezeigt, wo ich da schlafen kann - in einem Raum, der als Winterkirche benutzt wird. Es gab noch eine ausgiebige Kirchenführung und dann wurde ich mit den Schlüsseln zum Haus allein gelassen. Damit die zwei Flaschen Bier, die ich mir bestellt hatte, länger reichen, habe ich mir zum Abendbrot, bestehend aus mitgebrachten Stullen, einen Tee gekocht: Wintertee mit Spekulatius-Geschmack. Schmeckt auch im Sommer!

Nach dem Abendbrot habe ich eine ganze Weile in einem dicken, vor 15 Jahren begonnenen Gästebuch geblättert. Ausnahmslos werden da die für die Pilgerbetreuung zuständigen Gemeindemitglieder gelobt. Ich werde da morgen auch noch was Nettes reinschreiben.


Wilsnackfahrt - Tag 2, von Hennigsdorf nach Flatow