Wilsnackfahrt (Mittelalterlicher Pilgerweg von Berlin nach Bad Wilsnack)
Von Fehrbellin nach Barsikow

Tag 4 (Di, 23.8.2022) Von Fehrbellin nach Barsikow

Heute Morgen bin ich lecker nach Spekulatius riechend losgezogen. Zum Anbeißen!

Wie kam‘s? Wenn ich auf Wanderschaft bin, freue ich mich immer, wenn mein Vorgänger sein Duschbad oder seine Zahnpasta vergessen hat, weil das meine aus Gewichtsgründen klein gehaltenen Vorräte schont. So bekam ich gestern Abend leuchtende Augen, als ich in der Dusche eine fast volle Flasche Duschbad vorfand. Da konnte ich meine in irgendeinem Hotel mitgenommene Ampulle mit Duschbad in der Waschtasche lassen. Auf der vor­gefundenen Flasche lachten mich der Weihnachtsmann und ein Rentier an und irgendwas wie „Christmas Feelings“ stand drauf. Tatsächlich roch das Duschbad nach Spekulatius mit einem Hauch Lebkuchen. Da ich Beides liebe, habe ich gleich noch einen zweiten Waschgang nachgelegt. Nachts habe ich wie im Pfefferkuchenhaus geschlafen. Eine Vorfreude auf den Mehrower Plätzchenmarkt am zweiten Advent. Da morgens der Geruch schon etwas nachgelassen hatte, habe ich nochmal zwei Waschgänge nachgeschoben.

Zum Frühstück gab es unter anderem die gestern übrig gebliebenen Kirschpaprika, ohne zu bedenken, dass diese eine stuhltreibende Wirkung haben und auch im Abgang ziemlich scharf sind. Das habe ich dann auf einem verlassenen Wanderweg im Rhinluch zu spüren bekommen. Aber da findet man auch in großer Not schnell einen umgestürzten Baum, der sich als Donnerbalken eignet. Und wenn da schon keine Rinde mehr dran ist, könnte man wie zuhause endlos sitzen bleiben und Zeitung lesen (wenn vorhanden).

Damit ist schon mal gesagt, dass der Jakobsweg, der Fehrbellin vorbei am Rathaus nach Norden hin verlässt und dann gleich nach Westen abbiegt, menschenleer war. Er führt zunächst mitten durchs Luch, eine total glatte Flächen, durchzogen von vielen Gräben und langen Baumreihen. In vielen der Gräben war gar kein Wasser mehr, aber noch stand das Schilf am Ufer.

Über den Wiesen lagen am Morgen noch dicke Nebelschwaden, die zusammen mit der gerade erst aufgegangenen Sonne bizarre Bilder zauberten.

Irgendwann bog der Weg dann nach rechts, um auf einer nur mäßig befahrenen Straße nach Protzen im Norden zu führen. Etwa 2,5 km vor Protzen war der Jakobsweg aber plötzlich nach links abbiegend ausgeschildert. Da erinnerte ich mich, dass die Herbergsmutter in Fehrbellin erzählte, dass es neben dem Weg entlang der Straße von Protzen nach Garz auch eine Alternative gibt, die weiter durchs Luch nach Garz führt. Weil diese natur­verbundener und sicherer als die Straße ist, hat man nun offenbar die neue Variante zu offiziellen Route erklärt. Ich habe mich aber entschlossen, die alte, jetzt nicht einmal mehr ausgeschilderte Route entlang der Straße zu benutzen und bin weiter bis Protzen. Da biegt der Weg eigentlich schon am Ortseingang ab, ich bin jedoch in den Ort gelaufen, um mir die Kirche und das Gutshaus wenigstens von außen anzuschauen. Von dort ging es auf der Landstraße über Manker nach Garz. Da die recht stark befahrene Landstraße keinen Fuß- /Radweg hat, war das kein Vergnügen. Aber die imposanten Kirchen waren die Mühe wert.

In Manker habe ich zu Füßen des massigen Kirchturms neben der alten Feuerwache ein Schläfchen auf einer Parkbank gehalten. Wunderbar!

Als ich später in Garz um die Kirche schleiche, trifft eine Nachricht meiner Schwägerin Barbara ein und ich bemerke, dass ich meiner Lesebrille verlustig gegangen bin. Die kann mir nur in Manker auf der Parkbank aus der Hosentasche gerutscht sein. Was nun? Ich habe zwar noch eine Reservebrille dabei, aber wenn ich die aufsetze, habe ich keine Reserve mehr. Ich erinnere mich, dass Manker-Garz mit zwei Kilometern ausgeschildert ist. Da kann man ruhig nochmal zurück laufen. (Später stellte sich heraus, dass dies vom Ortsausgang aus galt, laut Routenplaner sind es 3,8 km von Kirche zu Kirche.) Da vor der Garzer Kirche eine Haltestelle ist, habe ich erwogen, mit dem Bus zurück und wieder her zu fahren. Aber da die Haltestelle beide Richtungen bedient und die Fahrtziele mir alle unbekannt waren, hätte ich nicht gewusst, auf welchen Bus ich warten muss. Da die meisten Busse Rufbusse sind, die nur kommen, wenn sie jemand angefordert hat, war zudem nicht klar, ob die gelisteten Busse wirklich alle fahren.

Ich bin dann einfach losgelaufen, schnellen Schrittes und wie vorgeschrieben am linken Straßenrand und mit Blick nach vorn. Durch den Blick nach vorn habe ich aber nicht den von hinten kommenden Bus bemerkt, der ausgerechnet im Bereich einer Haltestelle an mir vorbeigerauscht ist. Der hätte gepasst. Mit dem hätte ich bis Manker fahren, schnell die Brille greifen und mit dem nächsten Bus zurück fahren können. Da der Gegenbus gleich kam, hätte mich die ganze Aktion nur eine viertel Stunde gekostet. So waren es 1,5 Stunden für 6 km Umweg - und auch nur deshalb so wenig, weil ich rückzu etwa auf der Hälfte der Strecke etwa zeitgleich mit dem Bus an einer Haltestelle eintraf und die letzten zwei Kilometer gefahren bin. Aber wenigstens hatte ich meine Brille wieder, die ich genau da fand, wo ich sie vermutet hatte.

Zurück in Garz durchzuckte es mich, dass es wie schon im Mai auf dem Weg nach Santiago wieder Barbara war, die mich mit einer WhatsApp darauf gestoßen hat, dass meine Brille weg ist. Ob sie mein für die Brillen zuständiger Schutzengel ist? Sie hat zwar nicht verhindert, dass ich sie verloren habe (kann ja noch werden!), aber dafür gesorgt, dass ich nicht noch weiter zurücklaufen oder die Brille abschreiben musste. Im Alter und bei ausgefallenen Hobbys braucht man schon mehrere Schutzengel, zum Beispiel einen beim Überqueren der Straße, einen beim Klettern im Kirchturm und einen beim Laufen im Wald unter brüchigen Ästen. Gut dass ich jetzt einen weiteren habe, Schutzengel kann man nie genug haben!

Von Garz nach Barsikow waren es dann laut Ausschilderung noch 8 km. Die gingen zwar wieder durch eine flache Landschaft, aber nicht mehr entlang an Wiesen und Gräben, son­dern durch Mais- und Gemüsefelder. Ich bin jetzt, glaube ich, auch raus aus den Rhinluch.

Auf den zwei Stunden Weg war wieder kein Mensch anzutreffen. Das kann genauso anstrengend sein wie viele Menschen um einen herum. Ziemlich ausgelaugt und mit leerer Wasserflasche bin ich um halb sechs bei meinem Kirchturmquartier in Barsikow ange­kommen und habe dort zwei schöne Überraschungen erlebt. Davon später oder morgen.

Auf dem Weg nach Barsikow habe ich vorsichtshalber bei den Leuten, welche die Pilgerherberge betreuen, angerufen, ob es mit der Unterkunft im Kirchturm klar geht. In der Woche zuvor war ja zweimal meine Reservierung in Vergessenheit geraten. Frau Grützmacher sagte mir, dass ich einfach nochmal anrufen soll, wenn ich vor der Tür stehe, ihr Mann würde dann kommen. So war es auch. Am Fahrradlenker hatte er einen Beutel mit sehr wichtigem Inhalt zu hängen: mein Abendbrot und zwei Flaschen gut gekühltes, leckeres Tschechen-Bier. Das kam mir sehr gelegen, denn in der kurzen Wartezeit habe ich schon mit meiner leeren Wasserflasche in der Hand das Kirchengrundstück nach einem Wasserhahn abgesucht. Der Umweg wegen der verlorenen Brille hatte an meinen Vorräten gezehrt.

Das Bier war aber nicht die Überraschung, denn das wurde mir freundlicherweise schon bei der Reservierung in Aussicht gestellt. Die Überraschung war das Quartier selbst: eine Herberge über drei Etagen im Kirchturm. Die Kirche ist deutlich breiter als unsere und damit auch der Turm, der außen die gleiche Breite aufweist. Trotz der dicken Turmmauern ergibt sich ein Innenraum von ca. 6x6 Metern. Damit kann man was machen.

Im Erdgeschoss ist der Ess- und Aufenthaltsraum mit einer langen Tafel, der zugleich als Zugang zur Kirche dient und weiterhin als Winterkirche benutzt werden kann, worauf ein kleiner Altar hindeutet. Von diesem Raum hat man einen 1-Meter-Streifen abgetrennt und dort eine Miniküche mit Spüle, Herd, Kaffeemaschine und Wasserkocher eingerichtet. Dahinter ist in einer abgetrennten großen Nische des Mauerwerks ein ganz modernes Bad mit Dusche und WC eingerichtet, schmal, aber nicht eng. Ein zweites, auch ganz modernes Bad ist im hinteren Teil der Kirche unter der Orgelempore eingebaut worden. Im ersten Obergeschoss stehen ringsum vier Einzelbetten und in der Etage darüber drei Doppelstock­betten. Alle aus Metall, ganz neu und sehr bequem. Das Bettzeug (Steppdecken) ebenfalls ganz neu und sehr weich und warm.

Hier können also bis zu zehn Pilger, aber auch andere Durchreisende für 15 € prima übernachten. Das nehmen auch die Dorfbewohner gern in Anspruch, die zum Beispiel Geburtstagsgäste unterzubringen haben. Mit den Einnahmen soll der Eigenanteil der Gemeinde für die Kosten der Turmsanierung (500.000 €) refinanziert werden. Der Einbau der Pilgerherberge wurde übrigens von der EU und vom Land gefördert.

Die zweite Überraschung war, dass Herr Grützmacher, nachdem ich ihm auf die Frage nach meiner Herkunft mit „Ahrensfelde“ geantwortet hatte, sagte, dass seine Frau dort zur Schule gegangen sei. Als ich mit „Mehrow“ präzisierte, konterte er damit, dass seine Frau dort geboren und aufgewachsen sei. Die Welt ist ein Dorf. Da er eh noch Brot holen musste, kam er nach einer Weile mit seiner Frau im Gespann, die leider schon auf einen Rollator angewiesen ist. Die nette Frau hat sich genau wie ich sehr über die unverhoffte Begegnung gefreut und wir haben lange auf der Bank vor der Kirche gesessen und geplaudert. Die etwa 70jährige hat mir ihre bedrückende Lebensgeschichte erzählt: die Mutter Alkoholikerin und stets mit neuen Männern versehen, der Vater auch kein Abstinenzler und schnell verschwunden. Sie selbst hat noch als Jugendliche zwei Jahre ganz allein in Mehrow gewohnt. Das Haus hatte die Mutter da schon eilig verscherbelt, um an Geld für neuen Suff zu kommen. Der Ahrensfelder Pfarrer hätte das Mädel gern zu sich genommen, aber die Mutter wollte nicht auf die 30 Mark Kindergeld verzichten. Das ist eine sehr bewegende Geschichte und es erfreut, dass die Dame trotz dieser Erfahrungen nicht den Boden unter den Füßen verloren, sondern ihr Glück noch gefunden hat.

Obwohl sie sich sicher ist, dass ganz Mehrow froh war, als ihre Familie etwa 1968 verschwunden war, will sie doch gern nochmal an ihren Geburtsort kommen und sehen, ob sie da noch jemand kennt. Ich habe ihr vorgeschlagen, am 10. September zu unserem Dorffest zu kommen, weil die doch dort am ehesten alte Bekannte trifft. Das fand sie eine ganz tolle Idee, zumal sie ein paar Tage vorher Hochzeitstag haben und eh etwas unternehmen wollten.

Ich hoffe sehr, dass sie mit ihrem Mann kommt und dass sie von den alten Bekannten herzlich aufgenommen wird, denn für ihre unrühmlichen Eltern kann sie doch nichts.

Das war mal wieder eine so außergewöhnliche Begegnung, wie ich sie bisher nur auf dem Jakobsweg hatte.


Wilsnackfahrt - Tag 4, von Fehrbellin nach Barsikow