Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Anreise aus Paris

Tag 0 (Mi, 27.4.2022) – Anreise aus Paris

Ich bin am Vortag mit Easyjet nach Paris Orly geflogen und habe in Versailles übernachtet.

8.50 Uhr. Ich sitze im RER (S-Bahn) nach Gare Montparnasse. Eine tolle Verbindung: mit einmal umsteigen in 19 Minuten von Versailles/Porchefontaine zum Gare Montparnasse am Fuße des 59-stöckigen Hochhauses „Tour Montparnasse“ (210 m hoch), das man von überall in der Stadt sieht - vorausgesetzt man erwischt beim Umsteigen in Viroflay den nonstop-Zug. In Viroflay angekommen war die Freude groß, dass auf der anderen Bahnsteigseite Montparnasse ausgeschildert war. In dem Moment fuhr auf dem Nachbarbahnsteig ein Zug ein, der aussah wie der, auf den ich warte. Ein Sprint treppauf und treppab bringt mich noch rechtzeitig hin, wobei sich der morgens in der Kälte angezogene Pullover als ungünstig erweist. Letztlich hätten mich beide Züge ans Ziel gebracht. Der, in dem ich jetzt sitze, aber ohne Zwischenhalt und damit zehn Minuten schneller.

9.30 Uhr. Da ich wie geplant schon eine Stunde vor Abfahrt des TGV (vergleichbar mit unserem ICE, aber doppelstöckig) in Richtung Hendaye am Bahnhof war, konnte ich noch eine Runde durch den Bahnhof und das Bahnhofsviertel drehen. Jetzt warte ich darauf, dass angezeigt wird, von welchem Bahnsteig der Zug fährt. Eigentlich hätte ich ja mal aufs Klo gemusst, aber als ich gelesen habe, dass da der Eintritt 1 € kostet, fiel mir ein, dass ich ja noch vor der langen Tour meinen Schließmuskel trainieren wollte. Im Zug ist das Klo (hoffentlich) gratis.

10.15 Uhr. Ich sitze jetzt im TGV. So, wie ich auf dem BER das letzte Gate (A38) erwischt hatte, habe ich hier fast den letzten Wagen gebucht. Man glaubt gar nicht, wie lang solch ein Zug ist! Eigentlich sind es zwei, die in Dax (eine gute Stunde hinter Bordeaux) getrennt werden. Die andere Hälfte fährt nach Tarbes, wo ja auch ein Wallfahrtsort in der Nähe ist: Lourdes.

Der Zug ist klasse, ganz modern mit funktionierender (!) Klimaanlage, WLAN (was hier WiFi heißt), Tisch und USB-Dosen an jedem Platz, Durchgängen auf jeder Etage, in jedem Wagen oben und unten ein Klo. Das Aushalten hat sich übrigens gelohnt, die Toiletten sind nicht nur gratis, sondern auch tadellos. Und so isoliert, dass man es gar nicht merkt, wenn sich der Zug in Bewegung setzt.

Draußen ist strahlend blauer Himmel, ein Stück von der Metropole entfernt ist das flache Land abwechselnd mit grünen und gelben Feldern bedeckt. Ab und zu ein Dorf und sogar einzelne Windräder. Also gibt es hier doch nicht nur Atomstrom. Gleich hinter Paris waren noch ein paar Schlösser zu sehen, jetzt ragen dafür vereinzelt die für hier typischen Wasser­türme und Funkmasten aus der Erde. Es macht Spaß, aus dem Fenster zu schauen, aber fotografieren macht bei der Geschwindigkeit (vermutlich die üblichen 320 km/h) keinen Sinn.

Im Gepäckfach am Eingang des Wagens lagen übrigens einige Rucksäcke, die mit der Jakobsmuschel verziert sind. Ich werde also in der Pilgerherberge in Saint-Jean-Pied-de-Port, wo die anderen vermutlich auch hinwollen, nicht allein sein. Im Wagen sind auch deutsche Stimmen zu hören. Der Zug ist bis auf den letzten Platz besetzt - hier sind Ferien!

11.30 Uhr. Hier im TGV umweht mich ein bekannter Geruch: die Jubi-Version von Berliner Kindl! In Schönefeld ging es gestern so schnell, dass ich meine gerade angefangene Bierdose in die Jackentasche stecken musste, wo offenbar ein Schluck als ständige Erinnerung zurück geblieben ist. Gerade kam der Schaffner durch, der übrigens neben der Fahrkarte auch den Ausweis sehen wollte. Der hat mich darauf hingewiesen, dass ich eine Maske tragen muss. Die hatte ich ganz vergessen aufzusetzen. Da diese in der Jackentasche war, in der sich das Jubi ergossen hat, habe ich jetzt den Geruch von Hopfen und Malz direkt vor der Nase. Gut, dass ich keinen Fenchelsirup in der Jackentasche hatte!

11.45 Uhr. Die Landschaft wird welliger. Die Rapsfelder sind verschwunden, dafür sieht man jetzt immer mehr Weinberge - in einer halben Stunde ist Bordeaux erreicht. Außerdem ist nun draußen immer mal eine Burg zu sehen.

12.10 Uhr. Gleich ist Bordeaux einreicht. Gerade ging es über die Dordogne. Aus dieser Gegend stammen übrigens die vier Musketiere von Dumas. Links von der Bahn liegt das Schloss Bragelonne, dessen Vincomte für den Titel eines der Romane herhalten musste.

12.20 Uhr. Wir sind in Bordeaux. Kurz vor dem Bahnhof ging es über die Gironde, die sich mit der Dordogne vereint etwa 100 Kilometer weiter in einem großen Trichter in den Atlantik ergießt. An den Pfeilern der benachbarten Autobrücke ist gut zu erkennen, dass sich die Gezeiten bis hier auswirken.

Ich habe gerade eine neue Sitznachbarin bekommen, die bisherige ist hier ausgestiegen. Leider hat sie genau so wenig ein „Bonjour“ über die Lippen gebracht, wie die vorherige ein „Au revoir“. Da erübrigt sich die Antwort. Für eine Bahnfahrt braucht man also keine Sprachkenntnisse. Sicher gibt es heute noch weiteres zu berichten, aber ich will das Geschriebene schon mal abschicken, da ich das Talent habe, schnell mal was zu löschen. Außerdem gibt es hier gerade eine hervorragende Internetverbindung.

13.15 Uhr. Hinter Bordeaux fährt der TGV vorbei an riesigen, von Menschenhand angelegten Wäldern mit geschätzt 20 Jahre alten Kiefern, frisch gerodeten Flächen und Schonungen mit jungen Bäumchen. Das ist offenbar alles Nutzholz. Die Dörfer sind selten geworden. Wenn man hier auf Wanderschaft ist, braucht man Durchhaltevermögen.

13.40 Uhr. Wir haben gerade Dax verlassen, wo der Zug getrennt wurde. Ich hoffe, dass ich in der richtigen Hälfte sitze. Dann wäre ich in 20 Minuten in Bayonne, wo es nicht nur Schinken, sondern auch einen Bahnhof gibt. Auf dem geht es dann eine halbe Stunde später nach Cambo les Bains und von dort mit dem Bus ans Ziel. Offenbar fährt da gar kein Zug mehr hin. Die Tickets dafür habe ich schon.

Der Schaffner, der gerade durchkam, hat was von Bayonne erzählt. Ich hoffe, dass man da nicht während der Fahrt abspringen muss. Da sich hier einige Leute mit Gepäck zum anderen Zugende begeben, werde ich das jetzt mal auch machen.

14.30 Uhr. Ich sitze nun im Zug nach Cambo les Bains. Ein Triebwagen, der sehr gut gefüllt ist. Fast ausschließlich mit Leuten, die einen mit Jakobsmuschel verzierten Rucksack auf dem Rücken haben. Einsamkeit wird mich also schon am Start nicht beschleichen.

14.50 Uhr. Die Landschaft sieht hier ganz anders aus. Viel Wasser, dazwischen Weiden mit Kühen drauf. Dann wieder urwüchsiger Wald. Kaum Felder. Die paar Orte die es hier gibt, liegen offenbar alle an dieser Bahnlinie.

15.10 Uhr. Nun sitze ich in einem der beiden voll besetzten Reisebusse, die hier im Auftrag der Bahn fahren. Jetzt sind wir Pilger ganz unter uns. Neben mir sitzt ein Mädel aus den Niederlanden. Neben Deutschen und Franzosen sind mir auch schon Engländer und Italiener über den Weg gelaufen.

19.00 Uhr. Inzwischen bin ich längst angekommen. Die Fahrt war sehr schön, immer entlang der hier noch mäßig hohen Pyrenäen, durch hübsche kleine Orte und lange Zeit entlang eines Flusses, der immerhin so reißend war, dass dort Rafting zelebriert wurde. Über den Bergen hingen und hängen dunkelgraue Wolken, aber dank Lutz’ Intervention kam kein Tropfen runter.

In Saint-Jean-Pied-de-Port hielt der Bus direkt an der Treppe zum Pilgerbüro, aber nur, weil er wegen Gegenverkehr nicht abbiegen konnte. Da es sich um den Schienenersatzverkehr für die offenbar stillgelegte Bahnstrecke handelt, fuhr er bis zum Bahnhof am anderen Ende des Ortes. Dabei waren vermutlich alle Insassen Pilger, die sich im Pilgerbüro Ihren Pilgerpass holen wollten. Ich habe zwar einen, aber ein echter französischer oder spanischer hat mich schon gereizt, weshalb ich auch zuerst den Weg dorthin genommen habe. Dank angelesener Ortskenntnis und guter Karte war ich zusammen mit einem Engländer als erster dort. Danach war Quartiersuche angesagt.

Die erste kommunale Herberge war schon voll und in der zweiten waren nur noch 5 Betten frei. Da habe ich nicht lange überlegt. Vor dem Stadtbummel musste ich aber unbedingt noch in Roncesvalles, dem ersten Ort hinter den Pyrenäen ein Bett buchen, obwohl das ganz gegen meinen Grundsatz ist, nichts vorab zu buchen. Aber nachdem ich die Heerscharen gesehen habe und die Dame im Pilgerbüro meinte, da sollte man unbedingt buchen, sonst müsste man sehr früh dort sein (sie haben nur etwa 180 Betten), habe ich mich überwunden und gebucht. Deren Buchungsseite, die ich zuhause am Laptop schon mal gesichtet, aber meines guten Vorsatzes wegen wieder verlassen hatte, funktionierte auf dem Smartphone nicht richtig. Stets sollte man eine Taste drücken, die nicht sichtbar ist oder es wurden nicht die auszufüllenden Felder gezeigt. Nach einer halben Stunde, kurz vor der Verzweiflung hat es dann endlich geklappt. Ich habe also auch morgen Abend ein Dach über dem Kopf, falls ich es bis Roncesvalles schaffe.

Nach meiner Buchungs-Odyssee habe ich schon mal einen Bummel durch den Ort gemacht und in einem etwas auswärts liegenden Supermarkt eingekauft. Dann bin ich aber wegen des vollen Einkaufsbeutels und eines fast leeren Akkus zurück ins Quartier, wo ich jetzt neben einer der wenigen Steckdosen sitze. Hier bewährt sich mein 2-Meter-USB-Kabel, denn so muss ich nicht auf dem Flur sitzen, wo die Steckdose ist. Das war schon clever, sich sowas zuzulegen! Ich bin übrigens in einem 10-Personen-Zimmer gelandet. 5 Doppelstock­betten. Nebenan der Engländer, unter uns zwei Italiener. Insgesamt gibt es hier 3 Schlafsäle, die anderen haben 16 bzw. 6 Betten.

20.00 Uhr. Gerade habe ich meinen zweiten Rundgang absolviert. Der Ort hat alles, was man bei einem „Plus Beaux Village“ (eine Auszeichnung für besonders schöne Dörfer) erwartet: enge Gassen mit alten Häusern, viel Schmuck an den Türen, zwei Brücken als Fotomotiv, einen kleinen Wasserfall, eine alte Kirche, eine Zitadelle und eine schöne Stadtmauer, auf der man entlanglaufen und den Leuten in die Gärten schauen kann. Tagsüber war es ziemlich voll, aber jetzt sind die Tagestouristen weg und die Pilger unter sich. Ich werde mich jetzt erstmals den abendlichen Ritualen einer Pilgerfahrt widmen und mein Bett herrichten. Das Hochklettern ins Bett werde ich auch noch im Hellen üben.

Den Abend des Anreisetages habe ich mit einem beliebten Getränk aus dem Supermarkt, das es in Flaschen und Büchsen gibt, im kleinen Aufenthaltsraum der Herberge abgeschlossen. Drei Tische gibt es hier, einer ist von Spaniern okkupiert, an einem sitze ich und am dritten hat sich der Engländer nahe der dort befindlichen Steckdose niedergelassen. Der spricht leider auch dann rasend schnell, wenn er merkt, dass man ihn nicht versteht. Da macht mir die Unterhaltung keinen Spaß, muss ja auch nicht. Da kann ich mich besser mit den Italienern unterhalten, die unter uns schlafen. Die haben mir stolz erzählt, dass ihre Tochter in Lindau am Bodensee wohnt.

Hier im Aufenthaltsraum ist eine kleine Küchenzeile mit Mikrowelle, Kaffeemaschine usw. Da hängen auch Schilder, dass im Schrank Brot und im Kühlschrank Butter etc. für das Frühstück zur freien Verfügung zu finden ist. Stimmt! Sogar Kaffee scheint da zu sein. Da werde ich mich morgen bedienen und die gekauften Sandwiches für unterwegs aufheben. Wenn ich zeitig wach bin, dann werde mich nicht lange im Bett wälzen, sondern was essen und früh aufbrechen.

Camino Francés / Finisterre - Tag 0