Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Nájera nach Grañón

Tag 9 (Fr, 6.5.2022) – Von Nájera nach Grañón (hinter Santo Domingo de la Calzada)

Ich habe sehr gut geschlafen. Es gab nur wenige Schnarcher und keine laut ins Schloss fallende Türen. Da direkt vor dem Fenster eine Laterne stand, war es auch hinreichend hell, um ohne Taschenlampe zum Klo zu kommen. Meine Stirnlampe hat bisher nur selten Anwendung gefunden, da ich sie immer nicht finde, wenn ich sie mal brauchen könnte. Zu Zeiten von Smartphone-Lampen kann man sie durchaus auf die „Entbehrlich“-Liste setzen. Da gehört eigentlich auch die Trinkflasche hin, da ich mich ja immer im Supermarkt mit Sprudelwasser eindecke und wenn das alle ist, habe ich ja eine Flasche zum Auffüllen. Noch fällt mir auch kein Verwendungszweck für die zwei Oberhemden (lang und kurz) ein, aber vielleicht werde ich noch auf eine Hochzeit eingeladen. Ich werde sie auf keinen Fall entsorgen. Wie man einen Aquavit durch Überquerung des Äquators zum Linie-Aquavit adeln kam, so werde ich die Hemden zu Santiago-Hemden adeln, indem ich sie bis zum Ziel schleppe.

Trotz oder wegen des guten Schlafes habe ich seit fünf wach gelegen. Halb sechs habe ich die Spritze gesetzt, den Tabletten-Cocktail konsumiert, die Sachen gepackt und um viertel sieben bin ich los. Aus Nájera heraus ging es auf einem langen Anstieg durch Fels­formationen, die sich im Ernstfall gut zum Boofen geeignet hätten. Auf dem Plateau angekommen, bot sich ein grandioser Sonnenaufgang in meinem Rücken. Jetzt haben wirklich mal alle das Smartphone oder den Fotoapparat rausgeholt. Der Himmel war wolkenfrei, aber um 7 Uhr gab’s nur 4 Grad. Links waren schneebedeckte Berge zu sehen.

Der Rest der 21-km-Etappe war halbwegs eben, was aber relativ zu sehen ist. Fast das ganze Stück nach Santo Domingo de Calzada bin ich mit Harry aus Zürich gelaufen, der mich schon an den Vortagen wegen meiner Humpelei angesprochen und nach meinem Befinden gefragt hatte. Der ist mein Baujahr und selbständiger Bauingenieur. Er hat sein Geschäft so weit runtergefahren, dass er genug Zeit zum Pilgern hat. Er ist schon in Etappen von der Schweiz bis Santiago gelaufen (2300 km), aber das Stück von Saint-Jean bis Burgos fehlte ihm noch, das läuft er jetzt. Er hat geschwärmt von dem Stück durch Südfrankreich - der Landschaft, der netten Leute und des Essens wegen. Als Schweizer hat er ja schon mal ein paar Sprachen intus und auf Reisen durch Nord- und Südamerika (als junger Mann 8 Monate mit einem in New York gekauften Auto) hat er Englisch und Spanisch gelernt. Es war interessant, was er zu erzählen hatte und er war aus sehr interessiert, wie wir damals die Wende erlebt haben und welche Konsequenzen sie für uns hatte.

Mit interessanten Gesprächen (die bergauf ganzschön Puste kosteten) sind wir bis Santo Domingo gekommen. Er wusste noch nicht, wo er isst und ob er dort bleibt. Für mich war klar, dass ich nach einer Pause bis in den nächsten Ort weiterlaufe. Auf der Terrasse einer der Bars winkten mir schon die Damen aus Seattle zu, mit denen ich vor ein paar Tagen ins Gespräch gekommen war. Da es in dieser Gaststätte Paella mit Sangria gab, habe ich mich gern zu ihnen gesetzt und mit der Kellnerin ausgehandelt, dass sie mir statt Sangria ein Bier bringt. Die Paella war nicht doll (Reis mit drei Muscheln und einer Garnele), aber das Ge­spräch war sehr anregend. Die Damen wollten viel über Deutschland wissen. Mary ist noch berufstätig als Flugbegleiterin und Carol, die auf einer Insel wohnt, ist schon pensioniert. Sie war mal Fitness-Trainerin, aber neue Aufträge wollte sie leider nicht annehmen.

Nach Besichtigung der Kathedrale mit den gackernden Hühnern (die Geschichte kann man im Internet und in jedem Reiseführer nachlesen) habe ich mich auf den Weg in das ca. 8 km entfernte Dorf Grañón gemacht. Es war schön, mal zwei Stunden ganz allein zu laufen. Erst kurz vor dem Ziel tauchte hinter mir ein Mitbewerber um das letzte Bett auf, den ich aber erfolgreich abhängen konnte. Im Ort saßen vor der Bar lauter bekannte Gesichter, die mir den Weg zur Herberge zeigten, womit ich im Vorteil war. Meine Herberge ist ein (vermutlich schon mit dem Kirchenbau realisierter) Anbau an die mittelalterliche Kirche. Durch eine Tür auf der Rückseite kommt man über die enge Turmtreppe zur Herberge mit Matratzen auf zwei Etagen und einem urigen Aufenthaltsraum. Dort habe ich eine Matratze dicht an der „Geheimtür“ zur Kirche bekommen. Es wurde auch gleich das Programm für heute Abend mitgeteilt: um 19 Uhr Gottesdienst und um 20 Uhr gemeinsames Abendessen. Jeder bringt was mit. Ich muss noch schnell in den Konsum. Beim Kartoffelschälen bin ich bestimmt keine große Hilfe. Nach dem Zapfen des zweiten Bieres (mal eine andere Sorte) hat mir der Wirt gesagt, dass das 8% hat. Mein Gesang nachher beim Gottesdienst wird wohl in die Geschichte eingehen!

Camino Francés / Finisterre - Tag 9