Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Moratinos nach El Burgo Ranero

Tag 17 (Sa, 14.5.2022) – Von Moratinos nach El Burgo Ranero

Ich bin wie gesagt am Vorabend in Moratinos gelandet. In einem Haus, in dem zugleich Herberge, Hostel und Hotel sind. Als der Wirt mir geheimnisvoll sagte, dass ich einen Moment warten soll und er das Mögliche versucht, habe ich schon damit gerechnet, dass er mit einem teuren Hotelzimmer als einziger Option aufwarten wird. Aber ich habe wie gewünscht ein ganz normales 10-Euro-Bett in einem 6-Bett-Zimmer bekommen. Erstmals in einem Doppelstockbett mit Stoßdämpfern und einer Leiter, auf der zwei gleichzeitig hätten aufsteigen können. Ich hatte Unterdeck und habe die etwas korpulente Koreanerin über mir gar nicht wahrgenommen.

Hier habe ich mal wieder ein 12-Euro-Pilgermenü genommen mit einem sehr ordentlichen Salat, Hühnerbrust mit Pommes und einem Eis hinterher. Mit mir saßen am Tisch eine ältere Dame aus Nizza, Frédéric aus Toulouse, Frank aus der Nähe von Eindhofen in Holland, ein holländisches Paar aus Utrecht und eine junge Belgierin, die mit Tränen am Tisch saß und etwas abwesend ständig WhatsApp nach neuen Nachrichten checkte. Ihre Mutter liegt im Krankenhaus und sie hat sich große Sorgen um sie gemacht.

Ich habe ganz gut geschlafen, nur die Luft war etwas knapp. Die Fenster waren mit Betten verbaut und die Tür zum Flur, der auf eine offene Balustrade führte, konnte man nicht offen lassen, weil dann laufend der Bewegungsmelder anging. So bin ich leider über Nacht nicht die im Körper aufgestaute Wärme losgeworden. Am Morgen habe ich mir deshalb weniger als angeraten angezogen, damit der Körper mal abkühlen kann. Allerdings lief es mir am Morgen eiskalt den Rücken runter: Als ich mich schlaftrunken umschaute, glaubte ich, ein Gespenst zu sehen. Die Koreanerin schräg gegenüber hatte eine Gesichtsmaske angelegt und saß aufrecht im Bett.

Mit erhöhtem Harndrang vor der verschlossenen Toilette wartend, ist mir die Erleuchtung gekommen, dass „Klosett“ vom englischen „closed“ abgeleitet wurde. Es wird ja auch so geschrieben, wie ein Sprachunkundiger „closed“ ausspricht. Immer wenn man es eilig hat, steht das über der Türklinke. Ich habe mit den letzten Kräften dem spontanen Harnabgang widerstanden, bis die Tür aufging und fröhlich pfeifend ein Mann mit einem Handtuch um den Bauch heraustrat. Das war eine der Klo-/Dusche-Kombinationen, die gern von Warm­duschern als Rückzugsort benutzt werden. Wenn man da auf einen trifft, der gern lange Arien unter der Dusche singt, hat man selbst mit mäßig gefüllter Blase und normalem Stuhlgang ein Problem.

Im Nachbarort, San Nicolas, wo ich gefrühstückt habe, traf ich zum vermutlich letzten Mal die Bretonin, die vom Cap Finistère in der Bretagne nach Santiago und weiter zum galizischen Cap Finisterre unterwegs ist. Sie hat besonders schöner Herbergen wegen mindestens zwei Etappen mit wesentlich weniger als der geplanten 30 km gehabt. Da muss sie was aufholen.

Wenig später bin ich auf eine weitere Bretonin gestoßen und beim Picknick am späten Vormittag auf einen Bretonen, der allein mit dem Fahrrad unterwegs ist. Alle sofort erkennbar an der schwarz-weiß gestreiften Fahne am Rucksack. Ich werde mir demnächst einen brandenburgischen Adler auf den Rucksack sticken oder Herrn Woidke nach einem Fähnchen fragen, um gleich als Brandenburger erkannt zu werden.

Kurz vor Sahagún war an einer kleinen Kapelle ein Rastplatz besonders aufwändig hergerichtet. Hier ist angeblich die Hälfte des Jakobsweges erreicht. Ich war der Meinung, dass dies gestern schon der Fall war. Eine Bronzetafel im Ort mit dem Verlauf des Weges gab die Erklärung: für die Spanier zählt nur der Weg auf spanischem Boden. Für die beginnt er erst in Roncesvalles. Damit fehlen die knapp 30 km von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles. Das kommt hin.

Wenn ich die ganzen Tafeln richtig interpretiert habe, war Sahagún einst ein bedeutendes Zentrum der Zisterzienser. Zwei herausragende Mönche haben hier gewirkt und diese beiden flankieren den Strich, der die Hälfte des Jakobsweges markiert. Für die Koreaner ein absolutes Muss, sich dort ablichten zu lassen. Ein Koreaner hatte gar kein Verständnis dafür, dass ich nicht an diesem Ort fotografiert werden möchte, und hat solange gedrängelt, bis ich mich in Pose gestellt und ihm das Smartphone für ein Foto gegeben habe.

In der Sahagún, wo ich erstmals auf Gleise und einen Bahnhof gestoßen bin, hat man eine der großen mittelalterlichen Kirchen zu einem Theatersaal umgebaut und eine Zwischen­decke eingezogen, auf der sich eine sicher urige Pilgerherberge befindet. Im Gebäude sind außerdem die Touristeninformation und Sanitäranlagen. Das ist mal eine wirklich sinnvolle Nachnutzung nicht mehr benötigten Kirchenraums. An Kirchen gibt es in Sahagún noch einige, leider kam man nirgendwo rein. Es gibt auch einige Kneipen. Ich habe meinen zweiten Morgenkaffee in einer originellen irischen Kneipe konsumiert. Auch hinter Sahagún ging es immer an einer Landstraße entlang, die bis zur Autobahn-Abschlussstelle ziemlich stark befahren war.

Auf den Rastplätzen wurden Pflaster getauscht, so wie von Kindern Pokemonkarten. Natürlich hat jeder reichlich Pflaster dabei, aber nie genau die richtigen. Ich habe hier schon Füße zu sehen bekommen, die jedem Feldscher Stirnrunzeln beschert hätten. Manche Füße waren so mit Pflastern und Tapes verziert, dass ich Angst hatte, der Fuß fällt ab, wenn sein Besitzer am Abend das falsche Klebeband entfernt. Ich bin zum Glück bisher von Blasen und dergleichen verschont geblieben und auch der Wolf hat bisher noch nicht geheult. So könnte es ruhig noch ein paar Tage bleiben.

Bei der Strecke hinter Sahagún handelt es sich wahrscheinlich um jene, die Roland Marske in seiner Reportage so eindrucksvoll mit „9 Schritte, ein Baum, 9 Schritte, ein Baum, …“ beschreibt. Bei mir sind das zwar immer 11 Schritte, aber das kann man auf körperliche Differenzen zurückführen.

Meine unterschiedlich langen Beine (siehe Hanghuhn), die mir wegen des resultierenden Humpelns so viele mitleidige Nachfragen einbringen, haben aber auch einen riesigen Vorteil: da das eine Bein etwas länger ist, höre ich als Ausgleich auf dieser Seite etwas schlechter. Wenn jemand schnarcht, muss ich mich nur auf die Seite mit dem guten Ohr legen und den Kopf ins Kissen pressen, und schon fehlen ein paar Dezibel. Wenn sich dann der Schnarcher mal in eine geräuschlose Position dreht, kann ich selber auch mal die Seite wechseln. Man muss sich also nur synchron zum Schnarcher drehen und man hat seine Ruhe. Das habe ich die ganze Nacht erfolgreich mit Frédéric ausprobiert, der mich unbedingt an seinem Atemrhythmus teilhaben lassen wollte.

Das Wetter war heute bis zum Mittag hervorragend zum Wandern/Pilgern geeignet. Es war bewölkt und es wehte ein leichtes Lüftchen. Irgendwie klebten einem aber trotzdem die Sachen am Leib. Viele laufen ja mit Wanderhosen, die mit einem Reißverschluss versehen sind, mit denen man die Hälfte der Hosenbeine abnehmen kann. Ich hab‘ die auch im Laden probiert und fand die Reißverschlüsse über dem Knie störend. Mit Sachen loslaufen, an denen einem irgendwas stört, ist nicht ratsam. Ich habe mir deshalb zwei (Luxus!) Wander­hosen und eine ganz leichte kurze Shorts gekauft, die ich bei großer Hitze anziehen und notfalls auch als Badehose benutzen kann. Vor allem kann ich die auch anziehen, wenn die beiden Wander­hosen in der Wäsche sind. Mit den abgetrennten Hosenbeinen der Universal­hosen kann man hingegen schlecht die Scham bedecken, während der Waschgang läuft.

Um 12.30 Uhr war ich in Bercianos del Real Camino, für viele das Ende ihrer heutigen Etappe. Da war gleich am Ortseingang eine riesige Herberge, die sicher ganz ordentlich war. Außer dem großen Kneipenraum, der schnell gefüllt war und das Flair einer Bahnhofshalle hatte, gab es da noch zwei Speisesäle mit je über 50 Plätzen. Das habe ich als unpassende Bleibe empfunden, zumal es noch so früh am Tage war und eh alles ausgebucht war.

Ich habe da ein kühles Bier getrunken und ein Sandwich mit einem frisch gebratenen, ganz warmen Rührei drin gegessen. Dann bin ich los, obwohl inzwischen Regen eingesetzt hatte. Aber der war nicht stark und der Regenponcho hat seine Zauberwirkung entfaltet. Kaum hat man ihn mit Hilfe von ein oder zwei Mitpilgern übergestülpt, hört der Regen auf. Wenn man dann die nächsten 8 km allein unterwegs ist, hat man keine Chance, da wieder raus zu kommen, es sei dann, man macht Verrenkungen, die früher üblich waren, wenn man beim Trabi auf die Rückbank wollte.

Ich liebe es, hier am Nachmittag zu laufen. Da ist man fast allein, weil die meisten dann ihr gebuchtes Tagesziel erreicht haben und entweder erschöpft auf dem Bett liegen oder gelangweilt im Garten an einem Cocktail schlürfen. 25…30 km sind für mich ok und wenn nicht gerade Berge im Wege sind, schaffe ich zur Not noch ein Stück mehr.

Nach 28 km und Unterquerung von Auto- und Eisenbahn war ich El Burgo Ranero, einem völlig verträumten Kaff, in dem es aber laut Karte drei Herbergen gibt. Ich bin dem Pfeil zur kommunalen Herberge gefolgt, die sich aber auch als eine private erwies (Albergue La Laguna). Egal, war angeblich eh alles belegt. Der Wirt, der kein Englisch sprach, hat mir aber zu verstehen gegeben, dass ich einen Moment warten soll. Er hat vor sich hin über die Reservierungen geschimpft. Offenbar waren nicht alle gekommen. Es war viertel vier, an der Wand stand, dass Reservierungen bis 15.00 Uhr wahrgenommen werden müssen. Nach ein paar Minuten ist er mit mir in den Schlafraum, wo von 16 Betten noch 6 frei waren, allerdings alle mit einem Namensschild versehen. Eins davon hat er mir gegeben.

Das Reservieren ist für alle ein großer Blödsinn und hoffentlich wird das bald wieder abgeschafft. Wer reserviert, muss nur seinen Namen angeben, keine Kreditkartendaten oder Ähnliches. Wenn der dann nicht anreist, bleibt der Wirt auf einem leeren Bett sitzen, ohne was zu bekommen. Und andere, die das Bett genommen hätten, sind inzwischen weiter­gezogen. Also völliger Blödsinn.

Ich habe schließlich ein (12-Euro-) Bett bekommen, in einem nicht sonderlich gemütlichen Raum, aber ok. Das ist eine der wenigen Herbergen, in der es nicht gleichzeitig eine Bar gibt. Ich bin deshalb in die „City“ gezogen und habe dort in einer der beiden Bars Platz genommen. Da aber an vier der fünf Tische schon jemand saß und alle sich unterhielten, habe ich mir einen Platz auf der Gartenterrasse erbeten und bekommen. Da sitze ich nun, um meinen heutigen Bericht zu schreiben. Wie mir mitgeteilt wurde, schaut da sogar ab und zu mal jemand rein.

Heute ist irgendwie ein komischer Tag. Es ist alles erledigt: Abendbrot gegessen, Bericht geschrieben, Bilder verschickt, ausgiebig geduscht, alle Verschleißteile eingecremt und das Bett bezogen. Jetzt ist es um neun und es ist immer noch hell. Da das hier so eine Art Gartenlaube (mit einem gepflegten Garten davor) ist, wird es im Schlafsaal wohl auch hell bleiben, bis die Sonne untergeht - und das ist hier erst in einer halben Stunde der Fall.

Ich habe hier mal wieder einen Platz auf dem Oberdeck bekommen und musste gerade feststellen, dass das Bett beim Aufsteigen so sehr schwankt, dass ich Angst um das Ladegerät haben muss, das dicht neben dem Bett in der Steckdose steckt. Das werde ich wohl nachher lieber rausziehen. Für den da unten wird es eine lustige Seefahrt werden, wenn ich hier nachts absteige.

Um nochmal auf die Art des Pilgerns zurück zu kommen: ich werde versuchen, so lange als möglich das Hardcore-Pilgern durchzuhalten: kein Bus oder Taxi, Nutzung des als historisch ausgeschilderten Weges, den Rucksack auf dem eigenen Rücken, keine Reservierung und stets Unterkunft in Massenquartieren.

Ich kann noch keinem so richtig erklären, warum ich hier auf Pilgertour bin. Aber ein Beweggrund ist, dass es mich fasziniert, dass seit vielen Jahrhunderten Menschen aus den verschiedensten Beweggründen diesen Weg laufen: aus Kummer und Sorge, aus Freude und Dankbarkeit, manche vielleicht auch, um das Jakobus-Grab zu sehen oder weil Pilgern zu solch berühmten Ort schon immer was Besonderes war. Manche mussten auch Pilgern, weil sie wegen irgendeiner Missetat dazu verurteilt wurden. Ich weiß noch viel zu wenig, wie das Pilgern damals ablief, aber ich weiß, dass inzwischen wohl schon Millionen Pilger den Boden festgetreten haben, auf dem ich laufe, und dass es früher wohl kaum einem möglich war, sein Gepäck vorauszuschicken oder ein Bett zu reservieren. Und nobel geschlafen hat sicher auch kaum einer. Deshalb will ich das auch nicht machen und mich heute mal wieder mit einen schwankenden Doppelstockbett begnügen.

Darum, wo es morgen hingeht, habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich werde einfach loslaufen und mittags sehen, wie weit ich gekommen bin und wie weit ich noch kommen könnte. Ganz ins Blaue hinein kann man doch nicht laufen, weil ja der nächste Ort auch über 10 km entfernt sein kann.

Mein erster Pilgerpass, ein französischer, den ich in Saint Jean bekommen habe, ist fast voll mit Stempeln, aber ich habe mir schon einen zweiten, einen spanischen besorgt und zur Not habe ich noch den aus Deutschland mitgebrachten. Stempel bekommt man hier in allen Herbergen, in den Bars, in Touristeninfos und oft auch in Kirchen. Angeblich auch bei der Polizei, aber von denen wollte ich früher schon keinen Stempel haben. „Stempeln gehen“ hat hier eine ganz andere Bedeutung als bei uns. Wenn man in den Dörfern am Weg alle Kneipen abläuft, um sich einen Stempel zu holen, ist der Pass in wenigen Tagen voll. Den kann man dann beim Hausarzt vorlegen, um sich für die schlechten Leberwerte zu rechtfertigen.

Ich lass mir natürlich Stempel in den Herbergen geben, in denen ich genächtigt habe, und in Bars, in denen es mir gefallen hat. Und natürlich in den Kirchen, sofern sie offen sind und ein Stempel ausliegt. Da kommen schon drei, vier Stempel am Tag zusammen, in der Stadt noch ein paar mehr.

Camino Francés / Finisterre - Tag 17