Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von León nach Villadangos del Páramo

Tag 19 (Mo, 16.5.2022) – Von León nach Villadangos del Páramo

In meiner recht noblen Unterkunft in León sind reichlich Betten frei geblieben, in meinem 10-Bett-Raum zwei, die anderen beiden Schlafsäle sind gar nicht benutzt worden, von ca. 30 Betten waren also nur 8 belegt. Die Dame mit dem Rollkoffer war dem Anschien nach wohl doch keine Light-Pilgerin, sondern einfach eine, die eine Übernachtung gesucht hat und hier untergekommen ist, weil so viel frei war.

Ein paar hatten es wieder sehr eilig, aber die meisten blieben in den Betten, bis es durch die großen Fenster hell wurde und man ohne Lampe einpacken konnte. Im Aufenthaltsraum gab es einen Kaffeeautomaten, so dass ich nicht ohne Kreislaufschub loslaufen musste. Den Weg Richtung Kathedrale kannte ich ja schon. Kurz davor bin ich einem Schild folgend zu einer anderen Herberge abgebogen, einer großen kirchlichen, die wohl gut belegt war und gelobt wurde. Dort habe ich auch gleich den Kaffeeautomaten ausprobiert. Er funktioniert.

Im Stadtzentrum habe ich Juan aus Kolumbien getroffen, genauer gesagt Juan Felipe, weil in Kolumbien alle Juans noch einen zweiten Namen haben. Mit ihm bin ich ein ganzes Stück zusammen gelaufen. Zunächst gab es viel zu fotografieren, zum Beispiel das 5-Sterne-Hotel Parador mit seiner fantastischen historischen Fassade, auf der man bei jedem Hinschauen neue Details entdeckt, zum Beispiel Medaillons mit den Köpfen vermutlich bedeutsamer Leute. Davor ist ein witziges Bronzedenkmal mit einem erschöpften Pilger, der sich hingesetzt und seine Schuhe ausgezogen hat. Da haben wir uns natürlich erstmal gegenseitig zusammen mit dem erschöpften Pilger fotografiert.

Als wir aus der Stadt heraus waren, hat Juan erzählt, dass er in Kolumbien Maschinenbau und danach in Deutschland Energietechnik studiert hat und bis vor kurzem in einer Firma für Gebäudetechnik als Projektingenieur tätig war. Im April hat er gekündigt, um sich auf den Jakobsweg zu begeben und dann nach Kolumbien zurück zu gehen. Dort wird er in Bogota von seinen Eltern einen Betrieb übernehmen, der sich auch mit Gebäudetechnik befasst. Er war nach Deutschland gekommen, um zu erfahren, wie man hier an die Lösung technischer Probleme heran geht und hofft, dass ihm das hier Gelernte bei seiner künftigen Tätigkeit nützlich ist. Ich finde es schön, wenn jemand so zielgerichtet und engagiert an seiner Zukunft arbeitet und ich wünsche ihm viel Erfolg als künftiger Firmenchef.

Irgendwann tauchten am Weg Schilder auf, die anzeigten, dass man alternativ zum „echten“ Camino Francés auch eine Variante wählen kann, die nicht entlang von Straßen, sondern durch die Natur führt. Wie schon erwähnt möchte ich so nah wie möglich am historischen Weg bleiben. Juan wollte hingegen den schöneren Weg gehen, wofür ich volles Verständnis habe. Am Scheidepunkt haben wir noch ein Selfie gemacht und besprochen, dass wir uns bestimmt morgen Abend in Astorga treffen, wo die beiden Varianten des Weges wieder aufeinander treffen.

Kaum war ich allein, fiel mir auf, dass mir das linke Knie schmerzt. Ich war am Abend mit meinem schlurfenden Gang in León über eine Bordsteinkante gestolpert und ziemlich heftig mit dem Knie aufgeschlagen. Das tat am nächsten Morgen noch sehr weh, aber eine Voltaren-Einreibung und eine Schmerztablette hatten es möglich gemacht, trotzdem loszulaufen. Solange ich mit Juan gequatscht habe, kam mir das schmerzende Knie gar nicht in den Sinn, aber dann, als ich Zeit hatte, mich wegen meiner ganzen Wehwehchen zu bemitleiden, meldete sich der Schmerz, wogegen aber Voltaren und Schmerztablette wieder erfolgreich eingesetzt werden konnten. Wenn mich jemand fragt, was mir wehtut: ALLES, außer vielleicht die linke Hand. Aber Leid gehört nun mal dazu.

Mein Weg führte zunächst durch/unter/über ein großes Autobahnkreuz und dann immer entlang der dicht befahrenen N120. Das macht wirklich keinen Spaß, weil da ohrenbetäubender Lärm ist. Aber ich wollte das ja so. Mein Verlangen galt dabei lange Zeit einer Bank, auf der man sich mal hinlegen, ausstrecken und vielleicht sogar ein paar Minuten vor sich hin dämmern kann. Aber solch eine Bank stellt hier niemand an der Fernstraße hin.

Nahe einer Raststätte fand ich dann doch das Gesuchte: einen kleinen Pilgerrastplatz, sogar mit Getränkeautomaten, gut versteckt hinter parkenden Autos und deshalb kaum von jemand wahrgenommen. Dort habe ich mich hingelegt und tatsächlich blitzartig eine Stunde tief geschlafen, trotz der aus der einen Seite vorbei donnernden Autos und des lautstarken Hämmerns in einer Werkstatt auf der anderen Seite. Als ich dann irgendwann erwachte, fühlte ich mich wie neu geboren und in der Lage, auf die bereits gelaufenen fast 25 Kilometer noch was raufzulegen.

Nach der nächsten Kurve sah ich aber auf der anderen Straßenseite ein großes, frisch verputztes Gebäude, das als Herberge gekennzeichnet war. Vor der Tür stand eine Frau, schaute erwartungsvoll herüber und verschwand, als ich vorbei war. Dann dachte ich mir, man könnte ja mal schauen, was das für eine Herberge ist und erfragen, wann die nächste kommt. Drinnen wurde ich von dieser Frau, Patrizia, und ihrem „Kollegen“ Franco herzlich begrüßt. Beide sind Italiener und hier ehrenamtlich als Hospitaleros tätig. Als ich gesehen habe, dass um halb vier erst ein Übernachtungsgast angekommen war, habe ich mich fast aus Mitleid entschlossen, hier zu bleiben. Für die Beiden, die vermutlich ihren Urlaub dazu benutzen, Pilger zu betreuen, muss es doch frustrierend sein, wenn keiner kommt.

Die Herberge hat zwei Säle mit zusammen 48 Betten, jedes mit richtiger Bettwäsche, Steckdose, Leselampe und Schließfach. Ordentliche Sanitäranlagen, ein großer Essensraum und (wie ich leider erst nach meinem Einkauf mitbekommen habe) eine Küchenzeile mit zwei Ceran-Feldern, Mikrowelle, Geschirr und Besteck - alles ganz neu. Wenn ich die Tafel am Eingang richtig gedeutet habe, ist die Herberge 2021 eröffnet worden und steht deshalb vermutlich in keinem Reiseführer. Jene Pilger, die nachmittags aufgeregt alle im Reiseführer angegebenen Herbergen der Nächstliegenden Orte anrufen, finden diese hier nicht. Das ist so schade. Da lassen sich Leute um 5.20 Uhr wecken, ziehen um 6.00 Uhr im Dunkeln los, um sich halb zwölf vor einer finsteren Herberge anzustellen, die um 13.00 Uhr aufmacht. Und hier steht solch ein Schmuckstück leer! Purer Blödsinn. Das ist nun schon die dritte neue Herberge, in der ich fast allein bin, während mir unterwegs die Leute die Ohren volljammern, dass alles ausgebucht sei.

In der Herberge gibt es leider keine Bewirtschaftung und die Hospitaleros haben gleich darauf hingewiesen, dass es im Ort keine Gaststätte mehr gibt, aber noch einen Supermarkt. Außerdem sei um 20 Uhr in der Dorfkirche Gottesdienst, was ich sehr interessant fand.

Nachdem ich mein Bett (Nr. 48, das hinterste im Saal) in Beschlag genommen hatte, habe ich mich auf Besichtigungs- und Einkaufstour begeben. Ähnlich wie in Ahrensfelde hat auch hier die viel befahrene Straße, die den Ort zerschneidet, überhaupt nicht dazu beigetragen, dass sich hier irgendwelche Geschäftstätigkeit entwickelt. Ich habe vier geschlossene Gaststätten, ein leeres Hotel, zwei Banken (die aber vielleicht nur noch Geldautomaten betreiben), einen Versicherungsvertreter und eine Apotheke gefunden. Die Häuser sind eine bunte Mischung aus sehr ordentlichen, heruntergewirtschafteten und schon aufgegebenen Häusern. Es wird aber auch neu gebaut. Die Kommune scheint sich sehr zu bemühen, das Wohnumfeld zu verschönern. Die Bürgersteige sind mit schönem, teuren Altstadtpflaster belegt, der zentrale Platz ist mit einer ansehnlichen modernen Bebauung versehen, es entsteht eine Arztpraxis mit einem kleinen Park dahinter und die Dorfkirche ist neu verputzt, der Turm neu verfugt und der Vorplatz schön hergerichtet worden. Damit kann man aber leider nicht erzwingen, dass sich hier Betriebe und Geschäfte ansiedeln.

Beim Turm der schön hergerichteten Kirche, der eigentlich nur wie hier üblich ein freistehender Giebel ist, habe ich bemerkt, dass man die Flächen, auf denen andernorts die Störche nisten, Schrägen aufgemauert und kleine Windräder installiert hat. Bei Kirchen­bauern und Denkmalschützern sind die Störche offenbar nicht so beliebt wie bei Touristen, die vor den von Störchen okkupierten Türmen Gigabyte an Bildern knipsen.

Den Supermarkt habe ich vergeblich gesucht, bis ich kapiert habe, dass damit der etwas erweiterte Tabakladen gemeint ist. In Spanien dürfen ja Geschäfte, Gaststätten usw. keine Zigaretten verkaufen, sondern nur lizensierte Tabacos-Läden. Denen kann man aber offenbar nicht verwehren, ihr Sortiment zu erweitern. So hat dieser hier seinen Zigaretten­laden um ein paar Regale mit Haushalts- und Lebensmitteln erweitert und sogar eine Fleischtheke und einen kleinen Gemüsestand eingerichtet. Hier gibt es allerdings kein Pilgersortiment, sondern das, was die Leute im Ort brauchen. Da ist es etwas schwierig, sich etwas für das Abendbrot zusammenzustellen, zumal fast nirgendwo Preise dranstehen. Da ich nicht wusste, ob es in der Herberge eine Mikrowelle gibt, schieden Fertiggerichte aus. Letztlich hatte ich neben ein paar Leckereien (Oliven-/Gurkenmix, eingelegte Paprika usw.) Weißbrot und Fischbüchsen im Korb, da man ja mit dem Öl aus den Büchsen gut die Butter ersetzen kann.

Nach dem durchaus köstlichen Abendbrot in der Herberge bin ich in die Dorfkirche von Villadangos und habe dort beim allabendlichen (!) Gottesdienst etwa zwei Dutzend Leute angetroffen. Die Kirche war auch innen sehr schön restauriert und hatte einen prunkvollen Altar, welcher die ganze Chorwand ausfüllte. Der Pfarrer hat nach dem Gottesdienst extra noch mal die Scheinwerfer eingeschaltet, damit ich das fotografieren konnte.

Als ich zurück kam, saß meine einzige Mitbewohnerin in der 48-Betten-Herberge mit den Hospitaleros am Tisch, eine etwa siebzigjährige Irin, Ann (die in England lebt), vor sich einen kleinen Laptop, in den sie ihre Tageserlebnisse schrieb. Auf die Frage nach dem Frühstück haben wir uns auf 6 Uhr geeinigt. Zum Glück bin ich kurz vorher aufgewacht - ich habe allein in 24-Mann-Schlafsaal hervorragend geschlafen.

Camino Francés / Finisterre - Tag 19