Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Santiago de Compostela nach Negreira

Tag 32 (So, 29.5.2022) – Von Santiago de Compostela nach Negreira

Ich bin, wie schon gesagt, aus Santiago geflüchtet, weil mir da zu viel Trubel war. Wie ich heute gemerkt habe, hätte mir ein zweiter Tag Ruhe ganz gut getan, aber um die zu haben, hätte ich mich den ganzen Tag in meiner Koje verkriechen müssen, wovon ich einen Koller bekommen hätte.

Ich habe deshalb beschlossen, heute schon weiter zu laufen und dafür die Etappen etwas abzukürzen. Aber das ist gar nicht so einfach, denn auf den Weg ans Ende der Welt (Finisterre) kommt meines Wissens die erste Herberge nach 23 km in Negreira oder besser gesagt in Negreiras Vorort Chancela. Und da bin ich abgestiegen. Hier ist alles ok, bisher sind nur 3 in meinem 10-Mann-Zimmer, Sanitäranlagen sind ok, es gibt eine kleine Bar und einen netten Aufenthaltsraum. Das Bett habe ich noch vor dem Bezahlen eine Stunde auf Eignung getestet.

Ich war wirklich alle, als ich hier ankam. Ich will keinen Helden spielen: die Tour nach Santiago war für einen alten Mann schon ziemlich anstrengend und mir tut nach wie vor alles weh. Zum Glück spielen die Füße mit. Bisher keine Blase! Das macht mir hier kaum einer nach. Ich habe mich schon per Email bei meiner Fußpflege bedankt, die vermutlich „Schuld“ daran hat. Und meine Hausärztin Beate hat schon ein Dankeschön dafür bekommen, dass sie mich nach dem Bandscheibenvorfall für diese Tour fit gemacht hat. Sechs Wochen vor dem Start musste ich noch Wanderungen nach 5 km abbrechen, weil ich nicht weiterkonnte.

Heute früh bin ich um sechs los. Auf dem Weg durch die Stadt kamen mir mehrere Gruppen von Jugendlichen entgegen, die wohl morgens aus den Clubs geworfen wurden. Gleich hinter der Stadt ging es bergab und -auf. Auf dem ersten Berg, dem Monte Vidan, bot sich ein grandioser Blick auf die Stadt. Schemenhaft war da die Kathedrale zu sehen, die man in der Stadt nur wahrnimmt, wenn man davor steht. Das war schon ein bewegender Anblick und bei der Rast auf dem Berg habe ich keinen bemerkt, der da kein Foto gemacht hat.

Den ganzen Vormittag über ging es durch mehr oder wenige dichte Wälder, abwechselnd Eukalyptus, Kiefern und unbekannte Arten, die den Blättern nach zu urteilen, Eichen sein könnten. Während ich telefonierte, zog Tina vorbei, die ich dann in der nächsten Bar (die erste 10 km hinter Santiago!) traf. Kurz darauf gesellte sich Stefan, Industriemechaniker (Schlosser) aus Halle dazu, den ich schon öfter getroffen habe. In der folgenden Bar, 3 km weiter (die letzte auf den bis Negreira verbleibenden 10 km) kam auch noch Hagen, der Physiotherapeut aus Bautzen dazu. Da war der Ossi-Tisch komplett. Dass Hagen Physiotherapie-Profi ist, merkt man schon bei der Begrüßung. Er hat beim Schlag auf die Schulter genau die Stelle getroffen, die mir so weh tut. Ich habe ihn gebeten, die Begrüßung beim nächsten Treffen zu wiederholen, aber leider habe ich ihn heute nicht mehr zu sehen bekommen.

In der letztgenannten Bar ging es ordentlich zur Sache. Da konnte man sich zum Beispiel einen Viagra-Likör kommen lassen. Aber wer hier abends an sowas denkt, wofür man Viagra gebrauchen könnte, kann unmöglich zu Fuß unterwegs sein. Da denkt man abends nur noch an Füße und Rücken. Die Uhr mit dem Holzdildo als Pendel, die da an der Wand hängt, macht vermutlich vor allem Frauen beim Aufziehen Spaß. Sind wir hier noch auf dem Jakobsweg? Nein, auf dem Weg zum Ende der Welt!

Wie schon erwähnt, habe ich bisher einen interessanten Mitpilger unterschlagen: Thomas aus Saint Étienne bei Lyon in Frankreich. Der muss etwa mit mir gestartet sein, denn ich habe ihn fast jeden Tag getroffen. Ein gut aussehender, ganz hagerer junger Mann, der immer allein lief und auch abends stets allein vor der Herberge saß. Ich war ganz erstaunt, als ich ihn in Santiago mit anderen aus unserer Clique um ein 12-Pack „Mahou“ sitzen sah - der Camino verändert alle.

In Villafranca hatten wir das gleiche Quartier und ich fand ihn am späten Nachmittag an einem Steintisch sitzend, vor ihm ein kleiner Tuschkasten und ein Büchlein mit leeren Blättern. Mit feinen Pinselstrichen und unglaublicher Akribie hat er da gemalt, was auf der anderen Seite des Flusses zu sehen war. Ich habe ihm einen Moment zugeschaut und dann gebeten, mir die anderen Zeichnungen in seinem Büchlein zu zeigen. Unglaublich! Meist sind es nur einzelne Gebäude, Fassadenteile, Türmchen usw. So detailliert gezeichnet, dass man sich den Kauf einer Postkarte sparen kann. Er überlegt, ob er das mal als ein Büchlein herausgibt. Dafür wäre es wert, ein paar Euro auszugeben. Toll was mache Leite so drauf haben.

Ich habe hier nach besagtem Schläfchen und einem Getränk an der Bar die Füße einen Moment in den kleinen Swimmingpool im Garten gehalten. Das kalte Wasser und der Strahl aus der Düse haben den Füßen gut getan. Zwei kleine Mädchen, die mit ihrem Vater hier sind, haben dort sogar richtig gebadet.

Da es hier in der Herberge nichts zu essen gibt, bin ich zur nahe gelegenen Tanke, zu der ein recht großer und durchaus bezahlbarer Supermarkt gehört. Andere Geschäfte haben heute am Sonntag nicht geöffnet. Dort habe ich mich mit einer leckeren Pizza nebst Zutaten eingedeckt. Im Aufenthaltsraum gibt es eine Mikrowelle und die Wirtin kam gleich mit einer Tischdecke und Besteck. Besser hätte ich auch im nahe gelegenen Hotel nicht essen können. Im Fernseher habe ich mir einen lokalen Sender gesucht, in dem gerade eine Reportage über die Via de la Plata läuft, den Pilgerweg, der von Sevilla durch ganz Spanien nach Santiago verläuft. Großartige Bilder! Da gibt es Strecken, auf denen man den ganzen Tag keinen Menschen, keinen Ort und keine Gaststätte oder Herberge trifft. Das ist was für Profi-Pilger. Da muss ich vorher noch etwas üben, zum Beispiel auf dem Camino del Norte, der entlang der Nordküste verläuft und sehr gelobt wird, zumal er nicht so überlaufen ist.

Ich habe hier einige getroffen, die zum ersten Mal auf einem Camino sind, aber nicht einen einzigen, der gesagt hat, dass es sein letzter wäre. Trotz aller Strapazen: Pilgern macht süchtig. Und ich weiß nicht, ob ich bis zum nächsten Jahr warten kann, bis ich wieder auf einen der Caminos gehe.

Ich wurde gefragt, ob mich der Weg verändert hat. Ich hoffe ja, aber das müssen andere beurteilen. Was ich auf jeden Fall für die Zukunft mitnehme, ist, dass man sich nicht um alles Mögliche sorgen und gegen alles absichern muss. Sicher werde ich nicht nach der Heimkehr meine Feuerversicherung kündigen, aber mir nicht mehr so viele Gedanken darüber machen, was morgen wird. Siehe die Reservierungen: die Leute machen sich einen Stress mit dem Rumtelefonieren und landen in Herbergen, die ganz ungelegen und schlechter als die zufällig gefundenen sind. Ich habe fast immer Glück gehabt und mit der Nacht im Freien (die nicht hätte sein müssen, wenn ich mich noch über den Berg getraut hätte) bin ich sogar noch um eine Erfahrung reicher als die Anderen. Ein zweites, was ich mitnehme: mit ein bisschen Gottvertrauen bringt man Sachen zustande, die man selbst nicht für möglich gehalten hätte. Was sich sonst noch in den gut vier Wochen in der Seele abgespielt hat, ist wohl wirklich eher was für einen Abend am Kamin (vorzugsweise in der Bretagne) als hier auf WhatsApp.

Zu den Freundschaften: Was man hier an netten Leuten trifft und an guten Gesprächen führt, ist (bis auf die schöne Erinnerung daran), für den Augenblick. Es mag Ausnahmen geben, aber hier schließt man keine Freundschaften fürs Leben. Man fällt sich um den Hals, wenn man sich zum x-ten Mal begegnet oder in Santiago verabschiedet. Und man freut sich darauf, sich irgendwann mal wieder auf einem Camino zu begegnen - es ist ja schließlich für niemand der Letzte. Aber man tauscht keine Adressen aus, bestenfalls mal Telefonnummern, um sich gegenseitig Bilder zu schicken, zum Beispiel von einem gemeinsamen Kneipen­besuch.

Nun hat mir die Wirtin für den Fall das es kalt wird, den mit Pellets aus dem Baumarkt betriebenen Kaminofen angeschmissen. Jetzt ins Bett zu gehen wäre unhöflich. Im Fern­sehen läuft eine weitere Reportage mit großartigen Bildern einer (vermutlich) spanischen Küstenlandschaft. Dort sieht man einst übereinander liegende Gesteinsschichten senkrecht aufgetürmt. Heute hatte ich auch den Eindruck, dass sich gerade die iberische Platte faltet und in die Höhe zeigt, denn es ging scheinbar den ganzen Tag bergauf.

Ich bin gespannt, was mich morgen erwartet. Leider mit großer Wahrscheinlichkeit Regen. Der Himmel hängt jetzt schon voller schwarzer Wolken. Aber ohne Regen wäre es hier ringsum nicht so grün.

Ich werde jetzt erstmal unter die Dusche und dann Schlafen gehen. Vielleicht fällt mir dabei noch was Erwähnenswertes ein.

Zum Publikum sei gesagt, dass es heute früh so zuging, wie ich mir das eigentlich vorgestellt habe. Ab und zu kam mal ein einzelner Pilger oder ein Paar vorbei gezogen. Später auch mal vier gleichzeitig, aber von der Menge her weit entfernt von dem, was auf dem Weg nach Santiago los war. Und den ganzen Tag über nur eine Gruppe von etwa 8…10 älteren Leuten mit leichtem Gepäck. Das lässt sich aushalten. Wegen der geringen Herbergsdichte hatte ich befürchtet, dass es schwer sei, ein Quartier zu bekommen, aber bei uns im Zimmer ist es bei drei Belegungen geblieben. Im anderen 10er-Zimmer sind es wohl ein paar mehr. Der Vater mit den beiden kleinen Mädels hat wahrscheinlich das Viererzimmer bekommen. Für die etwa sechsjährigen Mädchen, die man jetzt noch herumtollen hört, ist das bestimmt ein spannender Urlaub.

Camino Francés / Finisterre - Tag 32