Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Fisterra nach Lires

Tag 36 (Do, 2.6.2022) – Von Fisterra nach Lires

Ich glaube, es ist Donnerstag. Man verliert hier völlig das Gefühl für die Zeit. Ich habe wirklich gut geschlafen und bin erst drei viertel sieben aufgewacht. Viele andere haben da noch geschlafen. Heute hat es kaum einer eilig. Die meisten wollen mit dem Bus zurück nach Santiago. Direkt vor der Herberge ist die Haltestelle, an der eine ziemlich lange Schlange steht. Aber der Bus scheint recht oft zu fahren. Kaum ist die Schlange in einem Bus verschwunden, bildet dich sich eine neue. Am Fahrkartenschalter sehe ich Juan, der schon am vorigen Donnerstag Santiago erreicht hatte und danach Muxia-Fisterra gelaufen ist. Er will später am Tag nach Santiago, aber gleich weiter nach Vigo, wo es sehr schön sein soll.

Ich war um 8 Uhr mit Aufstehen und Packen fertig. Selbst der Klogang ist mir bei etwa 30 Anwärtern auf eine der zwei Porzellanschüsseln mit wackligem Deckel gelungen. In der Bar gegenüber habe ich noch einen Kaffee genommen. Der etwas genervte Kneiper war ganz entrüstet, dass ich um diese Zeit Spiegeleier mit Speck haben wollte. Er hat auf sein Sortiment an Croissants und Ähnlichem verwiesen, was mir aber alles viel zu süß war. Noch genervter war der Wirt, als ich das WiFi-Passwort haben wollte, um den Text und die Bilder wegzuschicken. O-Zwei hat mich nämlich gewarnt, dass mein Highspeed-Volume fast verbraucht ist, weshalb ich trotz des überall recht guten Funknetzes mit dem Bilder-Verschicken warten werde, bis ich WiFi habe.

Jetzt sitze ich in der ersten Bar am Wege, wo ich ein schönes Schinken-Käse-Sandwich bekommen habe. Ich genieße es, einfach mal eine Weile sitzen zu bleiben. Heute will ich nur die Hälfte bis Muxia schaffen (ca. 15 km), da muss ich mich nicht beeilen. In der Bar läuft im Fernsehen ein Morgenmagazin. Ein Thema war gerade das (60-Jahre-) Stones-Konzert in Madrid. Ab und zu kommt ein Arbeiter rein, zuletzt ein städtischer Angestellter, der mal kurz eine Pause bei Bier und Schnaps gemacht hat und dabei wild gestikulierend mit der Wirtin die Nachrichten kommentiert hat. Gerade ging es um Benzinpreise, was ihn besonders in Rage gebracht hat. So, nun geht‘s weiter.

17.30 Uhr. Ich sitze am Strand von Lires, das ist auf der Hälfte zwischen Fisterra und Muxia, wo ich morgen hin will. Hier habe ich mal meinen tapfer durchhaltenden Füßen eine Erfrischung gegönnt. Das Wasser ist herrlich und der Sand so fein und weich wie auf Usedom. Keine Quallen und nur am Rand des Strandes Seetang. Ich bin eine Pfeife, aber jeder andere würde sich da zum Baden reintrauen.

Nachdem ich eine ganze Weile durchs Wasser bin und auf einem Felsen sitzend die Wellen beobachtet habe, wollte ich mir nun mein Beinkleid überziehen und zum Hotel gehen, da mich dürstete. Da musste ich feststellen, dass der Hosenbund ganz nass ist, weil er in einer Pfütze in einer Delle des Steins gelegen hat. Ich bin mir sicher, dass die Pfütze noch nicht da war, als ich meinen Kram da abgelegt habe. Da muss bei einer großen Welle was reingeschwappt sein. Nun habe ich mir die Hose nach schon bekannter Manier über den Kopf gestülpt, wo sie trocknen und zugleich den Nacken vor der Sonne schützen kann. Hier ist nur ganz am anderen Ende des Strandes jemand. Der ist so weit weg, dass er die Hose auf dem Kopf für wallendes Haar halten wird.

Gerade habe ich so einen Mini-Tsunami gesehen, der bis zu meiner Kleiderablage kommt. Also keine Einbildung mit dem frischen Wasser im Stein. Viel Ebbe und Flut kann es hier doch eigentlich gar nicht geben. Aber man sollte trotzdem das Bierglas nicht so dicht ans Wasser stellen, da sonst leicht was reinschwappt. Leider habe ich jedoch nicht mal ein leeres Bierglas dabei, weshalb ich mich jetzt, bzw. wenn die Hose halbwegs trocken ist, in das doch ein ganzes Stück entfernte Dorf begeben werde, um dort etwas gegen drohende Dehydrierung zu unternehmen.

19.15 Uhr. Ich wollte mir gerade was zum Essen bestellen, „wütende Eier“ wie mein Übersetzungsprogramm „Huevos cebreados“ übersetzt. Aber Essen gibt es erst ab acht. Spanien! Bis dahin kann ich auch in meine Herberge umsiedeln, mein Bett beziehen, Duschen (dringend notwendig) und dort einkehren.

20.45 Uhr in einer viertel Stunde ist Sonnenuntergang. Vielleicht gehe ich doch noch mal zum Strand. Meine Untermieterin tut jetzt schon, als ob sie schläft. da macht es keinen Unterschied, ob ich sie um neun oder um elf durchs Hochklettern wecke.

21.20 Uhr. Ich bin nochmal zum Strand gelaufen, um mir den Sonnenuntergang anzuschauen. Ich habe mich da aber um eine Stunde vertan. Der ist hier erst nach zehn. Aber das macht nichts. Die Bank mit der besten Aussicht ist frei. Und nachdem ich vorhin so gedürstet habe, habe ich mir dieses Mal eine Flasche Wasser mitgenommen. Komischer­weise habe ich jetzt gar keinen Durst. Das muss an der Flasche liegen.

Die Sonne müht sich ja, effektvoll unterzugehen, und dank der tief hängenden Wolken gelingt ihr das auch. Schöne Bilder! Wenn ich die Flugbahn der Sonne verfolge, befürchte ich aber, dass die nicht überm Meer, sondern hinter der nächsten Landzunge untergeht. Na, die dort wohnen, wollen ja auch was vom Sonnenuntergang haben.

Bis es nun soweit ist, dass die Sonne im Meer verglüht, will ich mal noch erzählen, was heute los war. Also, das Wetter war gut, wenn auch lange furchtbar dunkle Wolken am Himmel standen. Orte und Bars waren auch heute wieder selten. Der Weg führte erneut durch sattes Grün und hin und wieder war auch mal das Meer zu sehen.

Es war nur etwas schwer, den richtigen Weg zu finden. Anfangs traten die Wegweiser unsinnigerweise paarweise auf: einer mit Pfeil nach rechts nach Fisterra und einer mit Pfeil nach links nach Muxia. Am Ortsrand von A Canosa gab es plötzlich keine Wegweiser mehr. Und der auf der Karte als Wander-/Jakobsweg ausgewiesene Weg erwies sich als ein Hohlweg, der immer enger und undurchdringlicher wurde, bis er in einem stachligen Gestrüpp endete. Ein Stück weiter im Tal war eine Straße zu sehen. Aber der Versuch, über die Wiesen dorthin zu kommen, scheiterte an den vielen Weidezäunen, die da über die Wiese gezogen waren. Zurück auf halber Strecke auf den Hohlweg zu kommen, war auch nicht möglich, weil der tief eingeschnitten verlief und ein schwer zu meisternder Abhang zu überwinden gewesen wäre. Heißt ja nicht umsonst „Hohlweg“. Also bis zu dessen Ende zurück und bergauf bis zu der Stelle, wo er abgezweigt ist. Die Karte zeigt dicht daneben einen Weg, der in etwa zum Ziel führt. Aber der endet hinter ein paar Gemüsebeeten auf einer Wiese. Laut Karte verläuft jedoch dicht daneben ein Weg, der zwar gestrichelt ist und deshalb vermutlich keine Prachtstraße ist, aber genau zum Ziel führt. Zurück bis zum Abzweig zu gehen, fand ich nicht schicklich, aber um auf diesen Weg zu kommen, war ein begrünter Wall zu überwinden, wobei „begrünt“ hier heißt, das der mit allen möglichen stachligen Gewächsen bewachsen war und jeder scheinbar stabile Ast der Bäumchen auf dem Wall sich als Attrappe erwies. Von den Stacheln zerschunden, aber wider Erwarten ohne gebrochene Knochen habe ich es auf diesen Weg geschafft, der in weiten Bögen durch den dichten Wald nach Lires führt.

Inzwischen war es schon ziemlich spät. Bei der ersten Absteige handelte es sich um ein Hotel, wo man mir für 50 € ein plüschiges Zimmer mit Doppelbett und Couch angeboten hat. Statt dieses großzügige Angebot anzunehmen, habe ich mich doch auf die Suche nach der Herberge gemacht, die ich mir ausgesucht hatte, As Eiras. Die war nicht weit weg und da gab es für 15 € noch ein Bett im 6er-Zimmer. Die Herberge gehört zu einem Hotel mit einer großen Gaststätte. Verhungern werde ich also heute nicht.

Erwähnt sei noch, dass ich heute Thomas, den großartigen Maler aus St. Étienne, und wenig später Tina getroffen habe. Beide haben die Tour andersrum gemacht als ich, nämlich erst nach Muxia und dann nach Fisterra. Mal sehen, wen ich noch treffe.

In der Gaststätte, in der ich vorhin mit meinem Essenswunsch auf 20.00 Uhr verwiesen wurde, bin ich jetzt um 22.40 Uhr wieder fast abgeblitzt, obwohl hier um 23.00 Uhr Küchen­schluss ist. Aber der Koch hat sich erbarmt und macht mir noch ein paar „wütende Eier“. Das Zeitfenster, Hunger zu haben, ist hier ziemlich eng bemessen. Und man muss offenbar zwischen Sonnenuntergang und Kalorienzufuhr wählen. Um mich herum wird schon geputzt.

Aber meine zwischenzeitlich gelieferten „wütenden Eier“ haben geschmeckt und jetzt warte ich darauf, dass sie mich hier rauskehren. Vorhin saß hier übrigens ein Liebespaar auf der Terrasse, beide mit verspiegelten Sonnenbrillen. Es war schön anzuschauen, wie die sich mit verklärtem Blick in die Augen schauten - vermutlich. Ich bin dem Rauskehren zuvor gekommen und habe bezahlt. Geärgert habe ich mich, dass das unbestellt zum Essen (Pommes!) gereichte Weißbrot extra berechnet haben. Sind zwar nur 50 Cent, aber trotzdem eine Sauerei. Schade, dass ich morgen schon weg bin und die Gaststätte nicht boykottieren kann. Das restliche Weißbrot habe ich übrigens mitgenommen. Für die Möwen in Muxia.

Camino Francés / Finisterre - Tag 36