Unterwegs auf der Via de la Plata und dem Camino Sanabrés von Sevilla nach Santiago de Compostela
Tag 21 (So, 17.3. 24) Fuenterroble de Salvat. - San Pedro de Rozados / 27,8 km
Wie mir mein Tablettentütchen sagt, ist die Hälfte der Zeit rum. Um nicht jeden Morgen laut knisternd aus allen möglichen Packungen meine Tablettenration heraus fummeln zu müssen, habe ich die Hälfte des Tablettenvorrats in eine Plastiktüte gefüllt, wo ich mir morgens nur vier verschieden aussehende Tabletten raussuchen muss, was viel schneller und geräusch­ärmer geht. Heute muss ich die Tüte also wieder auffüllen. Irgendwann heute und morgen sollte aber auch die Hälfte der Strecke geschafft sein. Die Entfernungsangaben, die hier manchmal in den Orten zu finden sind, sind leider sehr widersprüchlich.
In der letzten Nacht war das Schlafen etwas problematisch, weil die Betten mit Federboden völlig durchgelegen und die Matratzen noch dazu sehr weich waren. Für mein über Jahrzehnte kaputt gesessenes Kreuz ist sowas Gift. Um überhaupt etwas schlafen zu können, musste ich mich hochkant an eine Außenkante des Bettes legen und aufpassen, dass ich weder polternd nach draußen rolle, noch zurück in die Tiefe des Bettes gleite. Erst nach mehreren erfolglosen Versuchen, diese Lage längere Zeit beizubehalten, kam ich auf die Idee, die mal nicht benötigte Decke zusammenzurollen und als Abrollschutz hinter den Rücken zu legen. Auf der anderen Seite bewahrte mich ein Stuhl vor dem Absturz.
Da das gemeinsame Frühstück für um acht in Aussicht gestellt war, blieb es bis um sieben ruhig im Saal. Erst dann haben die Ersten zu packen begonnen. Ich habe mir damit auch Zeit gelassen - und war zwanzig vor acht plötzlich allein. Die anderen waren schon nach und nach in den Speiseraum verschwunden und saßen da genüsslich mampfend, als ich kam. Da galt es schnell aufzuholen. Da ich der einzige war, der sich keine Marmelade aufs Weißbrot schmierte oder Napfkuchenstücke in den Kaffee tunkte, hatte ich das auf dem Tisch stehende Glas Iberische Pastete (eine Art feine Leberwurst) ganz für mich allein. In der schon geöffneten Bar habe ich mir noch eine Flasche Wasser für den Weg geholt und dann bin ich los.
Bald hinter dem Ort begann ein Feldweg direkt auf der alten Römerstraße, die an manchen Stellen sogar noch zum Vorschein kam. Am Weg immer wieder mannshohe, zylindrische Meilensteine, oft sogar im Original. Daneben stehen hier stets Edelstahltafeln, auf denen die meist unleserliche Beschriftung wiedergegeben wird. Auf diesem Stück waren es die Meilen­steine CLII … CLIV (152…154) - zu einfach, um dazu eine Rundfrage zu starten. Gestern bei CXLII konnte ich schon eher jemanden in Verlegenheit bringen. Ich weiß zwar inzwischen, dass eine römische Meile etwa 1,50 m (ein Doppelschritt) entspricht, aber nicht, wo die Zählung beginnt. Vermutlich in Mérida, denn das käme von der Entfernung etwa hin.
Nach einer gefühlten Ewigkeit immer geradeaus, kam an einer Wegkreuzung ein Viehgatter und dahinter stand eine ganze Herde brauner Bullen, Kühe und Kälber auf dem Weg und schaute mich verwundert an. Bestimmt hätten sie mir freiwillig Platz gemacht, aber vorsichts­halber sprang der zugehörige Bauer aus seinem am Wegesrand parkenden Auto und sagte seinen Tieren, dass sie mich durchlassen sollen. Da hatte ich freie Bahn. Eine ganze Weile trottete die Herde neben mir her, immer mal ein paar frische Triebe der Korkeichen abknabbernd. Als dann ihre grüne Weide in Sichtweite kam, rannten sie alle los, schräg über den Weg. Ich kam mir inmitten der Herde wie ein Cowboy vor.
Dann wurde der Weg kritisch, zumindest für mich und meinen Fuß, denn nun ging es auf einem schmalen, holprigen Weg durch einen Gespensterwald hoch auf knapp 1200 Meter. Es ist die Sierra de Dueña, die da im Weg steht. Man hätte die Bergkette, die von Wind­rädern gekrönt wird, auch auf einer ausgewiesenen Wegvariante umgehen können. Aber nun war ich doch an dem Ausblick von da oben interessiert. Die schneebedeckten Berge in meinem Rücken hatte ich schon -zig Mal fotografiert, weil sie mir bei jedem Zurückblicken immer eindrucksvoller vorkamen. Jetzt, als es bergauf ging, kam noch der Eindruck der Weite hinzu, da nun auch der zurückgelegte, fast schnurgerade Weg ins Bild kam. Die mit jedem gewonnenen Höhenmeter weiter in die Ferne reichende Sicht entschädigte für die Strapazen. Mit der mir selbst gegebenen Ausrede, die Fernsicht genießen zu wollen, habe ich mich kurz vor dem Gipfel erstmal auf einem großen Stein lang ausgestreckt und Pause gemacht. Das tat gut. Irgendwie habe ich dann auch noch den Rest geschafft uns sogar noch den Abstecher zum „Gipfelkreuz“ gemacht. An der höchsten Stelle steht nämlich ein auf einer langen Stange befestigtes, kleines Santiagokreuz - quasi als Pendant zum „Cruz de Ferro“ auf dem Camino Francés. Die Rundumsicht von da oben war einfach herrlich. Links und rechts endlose, dürftig mit Bäumen bestandene Weiden mit sehr wenigen Häusern und Straßen dazwischen. Hinter mir der gelaufene Weg mit den weißen Bergen am Horizont und vor mir die nächste Bergkette mit Windrädern oben drauf.
Ja, die Windräder. Es ist ja schön, dass man diese kostenlose, saubere Energie nutzt. Aber leider schmälern die Windräder nicht nur den Anblick, sondern machen auch noch Krach, den ich in diesem Ausmaß noch nie wahrgenommen habe. Die 14 Windräder auf dem Kamm des Berges standen still, als ich kam, und wurden gerade nacheinander in Position gebracht und angeschaltet. Das machte sehr laute, unangenehme Geräusche. Vielleicht, weil den Zahnkränzen schon das Schmiermittel fehlte, das an den Schäften der Windräder in langen schwarzen Streifen herunter lief. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann es unten angekommen und im Boden verschwunden ist.
Bergab ging es auf einem steilen, steinigen Pfad, der zwar nicht so viel Anstrengung gekostet hat wie der Aufstieg, aber auf die Knöchel ging. Da habe ich, unten an der Straße angekommen, erstmal Rast machen müssen. An einem Mäuerchen aus geschichteten Steinen habe ich mich niedergelassen, denn unter den Steinen fanden sich auch welche, die sich als Stullenbrett eignen. Aus meinen Vorräten an Weißbrot, Butter, Kochschinken und Chorizo (Salami) habe ich mir dort ein ordentliches Nachmittagsmahl bereitet - unsere süd­deutschen Mitbürger würden das als „Vesper“ (gesprochen „Fäschber“) bezeichnen. Weiter ging es dann auf der Landstraße bzw. daneben befindlichen Wegen, auf denen schon die Römer dahin geschritten sind - vermutlich auf dem Weg zur nächsten Therme. Bis zum folgenden, einzigen Ort dieser Etappe zog sich das endlos hin. Lange geradeaus, dann eine Kurve und danach wieder lange geradeaus. Zwischendurch auf den zehn Kilometern nur ein einziges Gehöft. Irgendwann kam dann endlich der Abzweig von der Straße weg nach San Pedro de Rozados. Da habe ich überlegt, ob ich diesen Abzweig nehme und evtl. dort übernachte, oder ob ich auf der Straße bleibe und dann rechts nach Morille abbiege, wo ich mich mit meinen Freunden in der Herberge verabredet hatte. Aber eigentlich hatte ich genug vom Laufen und es gab auch keine wirkliche Notwendigkeit, auf die 28 km noch 4 km aufzuschlagen. Morille hatten wir uns nur als Etappenziel ausgedacht, weil man da dichter an Salamanca dran ist und dort am nächsten Tag abends eine Stunde mehr Zeit für Besichtigungen hat.
Wo ich nächtige, habe ich letztlich davon abhängig gemacht, ob es in San Pedro neben der teuren Pension noch eine Herberge gibt. Bei Gronze war keine gelistet, aber in der Camino-App gab es noch die Herberge „Mari Carmen“, allerdings ohne Ausstattungsmerkmale und ohne Bewertung. Vielleicht was ganz Neues. Ich habe die Herberge auch gleich gefunden, aber die war verrammelt und kein Hinweis zu finden, wo man sich melden soll. Ich wollte schon weiterlaufen, da kam eine Frau aus dem Haus gegenüber und hat mir zu verstehen gegeben, dass ich mir in der Pension den Schlüssel holen soll. Da ich auf ihre Weg­beschreibung etwas ungläubig reagiert habe, hat sie mich durch ihr Haus und ihren Garten zum Hinterausgang des Grundstücks geführt, wo ich direkt vor der Pension stand. Witzig war dabei, dass die Aufforderung zu folgen nicht in einem Heranwinken bestand, sondern in einer von sich weg weisenden Handbewegung, die man bei uns so interpretieren würde, dass man warten soll. Bei dieser Handbewegung bin ich der Dame natürlich nicht ins Haus gefolgt, sondern habe brav draußen gewartet, weil ich dachte, sie holt einen Schlüssel oder ruft an. Die muss mich für bekloppt gehalten haben, weil ich immer stehen geblieben bin, wenn sie besagte Handbewegung gemacht hat.
In der Pension, die glücklicherweise auch einen zum Löschen des gröbsten Durstes geeigneten Ausschank hatte, habe ich dann im Tausch gegen 10 € den Herbergsschlüssel und einen Stempel bekommen. Ich wurde auch gleich gefragt, ob ich um acht zum Abendessen und morgen zum Frühstück kommen will, was ich beides offen gelassen habe.
Als ich dann die Herberge von innen gesehen habe, hat es mich geärgert, dass ich nicht doch noch die 4 km bis Morille rangehängt habe. Es ist zwar alles sauber, aber herunter­gekommen und ungemütlich. Kalt, kein warmes Wasser, keine Küche, grelles Licht, kaum funktionierende Steckdosen usw. Einen Wasserkocher gibt es - aber ohne Tasse verhilft einem das auch nicht zu einem Morgenkaffee. Aber ich bin allein, was ja auch seinen Vorteil haben kann. Zum Beispiel, dass man heimlich die Damentoilette benutzen kann, weil es auf der Herrentoilette keine Klobrille gibt.
In Anbetracht dieser Absteige habe ich einen ganz perfiden Plan entwickelt: Ich werde die zur Pension gehörige Gaststätte boykottieren. Es soll ja noch einen Lebensmittelladen und eine Bar geben. Der Laden hatte natürlich zu, aber die Bar war offen. Da gab es zwar nichts zu essen, aber mein Lieblingsgetränk war dort nur halb so teuer! Und es war Stimmung. Als ich da um sechs eintrat, waren alle Tische besetzt - jeweils mit vier Leuten, die entweder Karten oder Domino spielten, was nicht ganz lautlos von statten ging. An drei Tischen Karten, an den anderen drei Tischen Domino. Unter den 24 Spielern war nur eine Frau. Eine ältere, gut gekleidete und herausgeputzte Dame, die aussah, als hätte sie schon eine Zocker-Karriere hinter sich. Von einigen Spielern standen die Frauen am Tresen, so dass es auch dort nicht leicht war, einen Platz zu finden. So gegen sieben waren überall die Spiele beendet und die Tische lichteten sich. Witzig war, dass viele der Spieler beim Bezahlen noch eine Tüte Gummitiere mitgenommen haben - wahrscheinlich, um gegenüber den Kindern das lange Wegbleiben zu rechtfertigen.
Ich bin dann auch bald los und habe mir in der Herberge mit den verbliebenen drei Toastbrotscheiben ein Mahl bereitet. Ich hatte zwar noch Butter, aber keinen Belag mehr. Aber halt: da war doch noch eine halbe Zwiebel, die letztens nicht mehr auf die Rühreipfanne gepasst hat. Die ergab einen köstlichen Belag für alle drei Stullen. Hier ist ja niemand, der die Konsequenzen ertragen muss.

Via de la Plata - Tag 21