Tag 1 (Do, 12.10.2023) Lissabon - Vila Franca de Xira / 41,2 km
Ich bin gestern Abend noch in den nächsten Supermarkt, eine Auchan-Filiale, die zwar nicht viel Auswahl hatte, aber genug für ein provisorisches Abendbrot: diverse Brötchen, Sardinen-Pastete als Butterersatz, ein Päckchen Eier und eine Portion Instant-Nudeln mit Beef-Geschmack, der als dunkles Pulver in einem kleinen Tütchen versteckt war. Alles zusammen hat satt gemacht und halbwegs gut geschmeckt.
Mit Schlafen war in der Nacht nicht viel. Ich bin zwar nach dem Essen wie tot ins Bett gefallen, war aber um Mitternacht hell wach und konnte nicht wieder einschlafen. Da bin ich wieder raus und habe mir aus dem Kühlschrank die dort für solche Fälle deponierte Bierbüchse geholt. In der kleinen Küche saß immer noch Julia, die aus der Gegend um Nürnberg stammt, gerade ihr Abi gemacht hat und jetzt ein viertel Jahr und vielleicht auch ein ganzes Jahr durch Europa zieht, immer ein paar Tage in kurzfristig gebuchten billigen Unterkünften. Ich beneide sie. Hätte es vor 50 Jahren für uns diese Möglichkeit gegeben, hätte ich das sofort genauso gemacht.
Als ich zurück ins Zimmer kam, hat es mich fast umgehauen. Meine zwei Mittschläfer im 6-Bett-Zimmer hatten Fenster und Balkontür zugemacht, weil draußen nach furchtbarer Straßenlärm war. Nun war es im Raum stickig und warm. Die Bettdecke, die bei diesem 13,50-Euro-Quartier im Preis enthalten war, erwies sich von vornherein als überflüssig. Nun war ich sogar geneigt, meinen Oberkörper zu entblößen, den ich mit einem T-Shirt vor neidischen Blicken verborgen hatte.
Irgendwie bin ich dann in dem Mief trotzdem eingeschlafen und erst um vier durch die fiesen Wadenkrämpfe aufgewacht, die mich immer plagen, wenn ich einen Tag nur rumgesessen habe, wie z. B. gestern im Flieger. Mit Schlafen war nun nichts mehr. Halb sechs bin ich raus, hab mir Frühstück gemacht (Spiegelei mit den gestern übrig gebliebenen Eiern), mich angezogen, eingepackt und mich auf den Weg gemacht. Da war es halb sieben und es wurde langsam hell.
Ich bin von meinem an der Alvenida Amirande Reis gelegenen Hostel runter zum Platz Martim Moniz gelaufen, wo ich gestern mit der Metro angekommen bin, und dann dem Stadtplan folgend zur Kathedrale. Unterwegs habe ich eine Polizeistation angesteuert, da mir das Mädel in der Herberge keinen Stempel in meinen Pilgerausweis geben konnte und in allen Pilgerführern steht, dass man sich den auch bei der Polizei holen kann. Fünf der sechs vor dem Gebäude herumlungernden Polizisten taten ganz unbeteiligt und der sechste hat mir erklärt, dass ich zur Touristeninfo im Einkaufscenter gehen soll. Auf meinen Einwand, dass da um sieben sicher noch zu ist, meinte er nur, dass ich dann halt da warten müsse. Sehr nett. Ich hätte mir natürlich in irgendeinem Hotel oder in einem der so früh schon offenen Straßenkaffees einen Stempel holen können, aber wenn man da selbst nicht genächtigt oder gespeist hat, ist das doof. Da die äußerlich im maurischen Stil herkommende Kathedrale (die wir seinerzeit bei unserem Lissabon-Aufenthalt besichtigt haben) erwartungsgemäß noch zu war und weit und breit keine Touristeninfo o. ä. geöffnet hatte, habe ich mir dann doch in einem nahen Imbiss einen Stempel geholt, um später in Santiago meinen Startpunkt nachweisen zu können.
Weiter ging es durch enge, verwinkelte Gassen mit vielen Fado-Bars, die jetzt verlassen und fast unheimlich waren. Irgendwann bin ich nach rechts vom Weg abgekommen und im Hafen gelandet, wo ein riesiges Kreuzfahrtschiff, die „Ventura“ einer britischen Gesellschaft, festgemacht hatte. Höher und viel länger als unser früherer Neubaublock in Hellersdorf. In dem würde ich nicht gern Urlaub machen wollen und daran ändert sich auch nichts, wenn Wasser statt Rasen ringsum ist. Das daneben liegende Schiff, in Höhe und Länge vielleicht die Hälfte der Ventura, sah dagegen wie ein Fischkutter aus.
Da ich gern entlang von Häfen spaziere und eh schon genug Altstadtgassen gesehen habe, bin ich am Wasser geblieben. Irgendwann traf ich wieder auf den Jakobsweg, der in der Stadt etwas sporadisch ausgeschildert ist - und wenn, dann mitunter nur als Weg nach Fatima mit einem blauen Pfeil. Weiter draußen klebt dann beides untereinander: das Symbol des Weges nach Fatima mit einem blauen Pfeil und die Jakobsmuschel mit einem gelben Pfeil. Eine fünfte Plakette verweist gelegentlich auf die Caminhos da Fé, die „Wege des Glaubens“, womit wohl die beiden zuvor genannten Wege zusammengenommen gemeint sind.
Der Camino führt entlang einer breiten Straße zu einem sehr futuristisch anmutenden Wohngebiet, das rings um die Ausstellungspavillons der Expo 98 entstanden ist und immer noch wächst. Die Pavillons der Weltausstellung 1998 haben längst neue Nutzung erfahren. Geblieben sind viele Gaststätten an der immer noch sehr beliebten Flaniermeile durch das Gelände. Bei einem Wetter wie heute (mittags 24 Grad, später sogar 27 Grad) bot es sich an, die Promenade direkt am Wasser zu benutzen, die gut von Bäumen beschattet ist. Parallel zu dieser Promenade, genau über der Uferlinie verkehrt eine zur Expo eröffnete Seilbahn. Da man aus der heraus aber auch nicht viel mehr sieht als von der Promenade, sind nur wenige bereit, für eine Fahrt 7 Euro zu bezahlen. Darum stand sie wohl auch bis auf einen Probelauf den ganzen Tag. Eine Attraktion des Geländes ist am nördlichen Ende, an der Seilbahn-Endstation, das Myriad-Hotel, das aussieht wie der kleine Bruder des Burj El Arab in Dubai, nur dass man hier meines Wissens selbst als Promi nicht oben mit den Hubschrauber landen kann. Dafür kann man aber als (zahlungskräftiger) Normalsterblicher mit dem Fahrstuhl hochfahren und sich umschauen, was sicher lohnt. Von da oben kann man die imposante Vasco-da-Gama-Brücke über die Bay aus einem ganz anderen Blickwinkel begutachten. In Ufernähe überspannt die Brücke mit zwei Schrägseilelementen in großer Höhe die Fahrrinne und führt im weiteren Verlauf nur wenige Meter über dem Meeresspiegel zum anderen Ufer der Bay, wo sie nochmal kurz in die Höhe führt, um großen Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen.
Hinter der Vasco-da-Gama-Brücke verläuft der Camino auf teils fertigen, teils noch im Bau befindlichen Wanderwegen entlang des Wassers. Damit war früher an der Mündung des Rio Trancão Schluss. Ab da ging es durch Sacavém und dann jenseits der nachfolgenden Orte, also auf deren Westseite, im Zickzack nach Norden. Kürzlich wurde aber eine Fußgänger-/Radfahrerbrücke über diesen Fluss gebaut und dahinter ein auf Stelzen durch die Salzwiesen am Ufer führender Weg eingerichtet: etwa 3,30 Meter breit und über 6 km lang! Aus Leisten errichtete „Tunnel“ und Vogelbeobachtungsstationen spenden dem Wanderer, Jogger oder Radfahrer stellenweise etwas Schatten. Da, wo der Laufsteg zu Ende ist, geht es auf einem breiten Weg mit Tartanbelag zwischen den Gewerbegrundstücken und dem Wasser weiter. Auch hier kann man viele Wasservögel, darunter auch Flamingos, beobachten.
Nach ein paar Kilometern geht es dann auf einem gewalzten Sandweg weiter, beidseits mit 4…5 m hohem Bambus bestanden. In Alverca do Ribatejo habe ich den Weg verlassen und bin in den Ort rein, in dem sich laut Herbergsführer vier Herbergen befinden sollen, Preise ab 12, 15, 16, 20 Euro und alle dicht beieinander in einer Straße gelegen. Es war 17 Uhr und ich hatte etwa 35 km unter den Sohlen, es war also durchaus Zeit, für heute Schluss zu machen. Ich habe die billigste der Herbergen angesteuert, die es offenbar gar nicht gibt und bin unter der angegeben Adresse in einer mit 15€ in der Liste stehenden Gaststätte gelandet. Die Kellnerin war schon nahe dran, meinem Beherbergungswunsch nachzukommen, hat sich aber nochmal mit fragendem Blick an ihren an der Bar herumlungernden Chef gewandt, der „20€“ sagte. In der Meinung, dass ich noch Alternativen hätte, habe ich abgewunken und die anderen beiden Herbergen aufgesucht. In der einen wollte man inzwischen 28€ und in der anderen vermietet man gar nicht mehr. Da bin ich reumütig zurück in die Gaststätte und hab verkündet, dass ich doch das 20€-Bett nehme. Da hat mich der arrogante Kneiper auf Portugiesisch angeschnauzt und regelrecht aus der Gaststätte gejagt. Den muss ich wohl sehr in seinem Stolz getroffen haben. Aber wenn hier einer dickköpfig ist, dann bin ich es! Um mir nicht einzugestehen, dass ich in der Sch… stecke, und um mein selbstgestelltes 20€-Limit nicht zu sprengen, habe ich beschlossen, dem Kneiper eins auszuwischen und noch bis in das 10 km entfernte Vila Franca zu laufen, wo es mehrere preiswerte Herbergen gibt, und ihm von dort aus heimlich einen Stinkefinger zu zeigen.
Ich habe mir in einer anderen Gaststätte noch schnell ein Bier zapfen lassen, was der Wirt zwar nicht mit Schaum konnte, dafür aber exakt bis zur Glasoberkante. Dann bin ich los, allerdings nicht ohne vorher in einer der Herbergen in Vila Franca anzufragen, ob was frei ist. Weil nun nicht mehr viel Zeit zum Rumtrödeln war, bin ich nicht bis runter zum Jakobsweg, sondern auf der Hauptstraße geblieben, zumal sich nach wenigen Kilometern eh der Jakobsweg zur Straße gesellt. Später bin ich dann noch mal mit dem Jakobsweg ans Wasser und so nach Vila Franca gekommen, wo sich meine Herberge „Vilatejo“ dicht am Bahnhof befindet. Die kostet zwar auch inzwischen 20 statt 10 Euro, ist aber ok und ich bin sogar allein in einem Viererzimmer.
Ich habe mir bei meiner Ankunft kurz vor acht noch schnell was in einem um acht schließenden Supermarkt besorgt. Nach dem Einchecken bin ich dann noch in einen anderen, der bis 21 Uhr offen hat. Nun habe ich sehr reichlich zu essen. Eine Pizza ist schon weg. Erstaunlicherweise habe ich gar nicht großen Hunger, obwohl das heute bestimmt 45 Kilometer waren. Vielleicht gibt es da irgendwo in meinem Körper versteckte Reserven?

Camino Portugues Central - Tag 1