Tag 8 (Do, 19.10.2023) Calvinos - Alvaiázere / 18,6 km
7.50 Uhr. Ich bin in die erste offene Bar am Wegesrand geflüchtet. Draußen gießt es in Strömen und ich bin von einer Stunde Laufen schon völlig durchnässt. Ob meine Schuhe in diesem Leben nochmal trocken werden, ist fraglich.
Der Tag begann für mich heute um 5 Uhr. Da hatte sich der vermeintliche Ire den Wecker gestellt, um anschließend in der Küche auf einer Matte Yoga zu machen. Da ich wegen der grausam juckenden Stiche am ganzen Körper eh nicht mehr schlafen konnte, bin ich aus dem Bett und hab‘ angefangen, meine Sachen zu packen. Ich weiß nicht, was hier durch die Gegend kraucht oder fliegt und dicke, juckende Blasen und nach deren Abschwellen 2€-große rote Flecken hinterlässt. Zecken sind es wohl nicht, denn ich habe nirgendwo ein eingegrabenes Tierchen entdeckt. Bettwanzen sind unwahrscheinlich, weil die Matratzen mit Folie überzogen sind und ein frisches Laken aus dem Schrank darüber kam. Ich muss mal bei Licht meinen (neuen) Schlafsack untersuchen. Als ich mit gepacktem Rucksack in die Küche kam, war der Ire mit Jogieren (?) fertig und saß beim Frühstück. Auf mein „Guten Morgen“ gab es ein Brummeln und schon hatte er die Ohrstöpsel in die beiden seitlichen Öffnungen des Kopfes gesteckt, womit unmissverständlich klar war, dass weitere Kommu­nikation unerwünscht ist. Der Holländer, der gestern zeitig im Bett verschwunden ist, hat bei der Begegnung auf dem Flur wenigstens noch ein „Buen Camino“ rausgebracht. Als ich halb sieben los bin, war es stockfinster, aber noch trocken, obwohl heute den ganzen Tag über 100% Regen angesagt sind. Das hat sich aber eine halbe Stunde später schlagartig geän­dert. Da fing es plötzlich furchtbar an zu schütten, was bis jetzt noch nicht aufgehört hat. Im Fernseher über mir läuft gerade eine Sondersendung zu den Unwettern im Land. Besonders schlimm ist die Küste betroffen. Ich hoffe, dass es auf meinem Weg nicht schlimmer wird.
An dieser Stelle ein Tipp für die Hobby-Kriminellen unter den Lesern: Wer mal jemand im Wald überfallen will, der sollte den Moment abpassen, da sich dieser das Regencape überstülpt. Da ist der nämlich minutenlang handlungsunfähig. Die Arme sind verknotet und der Sichtkontakt zur Außenwelt ist unterbrochen. Den braucht man dann nur noch greifen und in einen Sack stecken.
12.00 Uhr. Ich bin gerade in Alvaiázere angekommen, was vermutlich mein heutiges Tages­ziel ist. Zeitlich und kräftemäßig wäre es leicht möglich, noch gut 20 km bis Alvorge zu laufen, wo sich die nächste Herberge befindet, aber der Regen lässt nicht nach und ich bin jetzt schon völlig durchgeweicht. Ich weiß zwar nicht, was ich den ganzen Nachmittag in der Herberge anstellen soll, aber ich werde wohl hier in der Herberge Pinheiros bleiben. Die ist nur ein paar hundert Meter entfernt, aber ich bin trotzdem nochmal eingekehrt, um zu warten, bis der Regen etwas nachlässt, damit ich noch einen Abstecher zum Dorfkonsum machen kann, um mich mit Abendbrot und Frühstück einzudecken. Wenn ich einmal in der Herberge bin und die nassen Schuhe und Sachen ausgezogen habe, würde ich nur ungern nochmal rausgehen - es sei, die Sonne scheint und man kann mit Sandalen laufen. Aber das ist kaum zu erwarten.
17.00 Uhr. Kaum kam ich vorhin aus dem Supermarkt, da hat es schon wieder geregnet. Ich habe mir das Cape nur provisorisch übergestülpt und bin dann eiligen Schrittes in die Herberge. Da habe ich gerade noch die Chefin angetroffen, die den beiden Holländern, die mich überholt haben müssen, ihr Zimmer gezeigt hat. Ich habe von ihr in einem noch leeren Dreibettzimmer ein Bett bekommen, zum Preis eines Bettes im Schlafsaal (15€). Dann musste sie aber wieder auf die Arbeit, später wird ihr Mann kommen und die Formalitäten erledigen. Ich habe das Bett am Fenster gewählt, da kann ich auf die Hauptstraße und ein Stück Marktplatz schauen. Im Hintergrund sind Berge, über welche sich die dunklen Wolken schieben. Jetzt schaut gerade mal für ein paar Minuten die Sonne durch, ansonsten hat es pausenlos geregnet.
Ich habe mir vorhin einen schönen Kaffee gemacht und was aus dem Rucksack gegessen. Danach gab es ein erholsames Mittagsschläfchen. Erfreulicherweise liegt hier etwas Literatur zum Camino Portugues rum, sogar ein deutscher Reiseführer. Da habe ich wenigstens für den Rest des Tages was zu lesen. Zwischendurch muss ich immer mal das in meine Schuhe gestopfte Papier wechseln, in der sicher irrigen Erwartung, sie damit trocknen zu können. Ich habe für diesen Zweck vorhin im Supermarkt einen ganzen Stapel Prospekte mitgehen lassen. Schon aus dieser praktischen Erwägung bin ich dagegen, dass neuerdings die Reklame per Email oder in einer App kommt.
Gerade kam der Wirt, um zu kassieren und die Pilgerpässe zu stempeln. Bei ihm sind eigentlich richtige Siegel, komplettiert durch kleine aufgeklebte Kreuze etc. üblich, aber das wollte ich nicht haben, weil es kitschig aussieht und doch nur bröselt. Ich habe mich mit seinem einfallslosen Stempel begnügt. Trotzdem gab es hinterher einen Fingerhut voll Porto zum Kosten. Bei der Gelegenheit habe ich noch einen weiteren Herbergsbewohner kennen­gelernt, einen Franzosen aus Montpellier. Der ist mit dem Fahrrad entlang der Pyrenäen zur Biskaya, dann auf dem Camino del Norte und dem Primitivo nach Santiago gefahren. Jetzt fährt er entgegen meiner Laufrichtung nach Lissabon. Als ich ihn fragte, wo er herkommt, sagte er nur „Südfrankreich“ und war dann ganz verwundert, dass ich sofort „Montpellier“ geraten habe. Da kommt doch mein Lieblingsheiliger, der Hl. Rochus, her. Ihr erinnert Euch: das ist jener, der im Mittelalter pestkranke Pilger auf dem Weg nach Rom betreut hat, dann selbst die Pest bekam und in seiner Höhle jeden Tag von einem Hund mit einem Brot versorgt wurde. Darum sieht man ihn immer zusammen mit einem Hund und mit dem Finger auf eine Pestnarbe zeigend. In Portugal habe ich ihn leider noch nicht zu sehen bekommen. Hier ist die Ausstattung der Kirchen sehr Marienlastig, was sicher dem nahen Fátima geschuldet ist.

Camino Portugues Central - Tag 8