Tag 10 (Sa, 21.10.2023) Rabaçal - Coimbra / 28,1 km
Heute Abend ist so viel los, dass ich kaum Zeit zum Schreiben finde. Aber der Reihe nach: Gestern Abend habe ich noch bei Tageslicht meinen Schlafsack auf einem Tisch ausgerollt und nach Bettwanzen abgesucht. Ganz vorsichtig, denn ich habe beim Recherchieren erfahren, dass die Biester täglich 200mal Sex haben. Da möchte man ungern stören. Ich habe keine gefunden und auch das Bett war wanzenfrei - es sind tatsächlich keine Bisse dazu gekommen.
Ich habe grandios geschlafen - mit nur einem Mitbewohner im Zimmer, der andere hatte sich im Nachbarraum einquartiert. Bei offenen Fenster. Da war ich nachts froh, dass ich den wärmeren Schlafsack mitgenommen habe, bei dem anderen hätte ich eine der fragwürdigen Decken drüber ziehen müssen. Dass vom benachbarten Kirchturm alle halbe Stunde ein Glockenspiel erklang und zur vollen Stunde zusätzlich noch die Stundenzahl geläutet wurde, hat man irgendwann nicht mehr mitbekommen.
Ich bin um halb acht los, zeitgleich mit Thomas aus Tuttlingen und Marc aus der Schweiz. Die Beiden sind aber noch rüber in die Bar zum Frühstücken, ich hatte bereits meine Reste in der Küche verputzt. Um neun hatten mich die Beiden aber schon eingeholt. Die haben einen Schritt vorgelegt, den ich nicht hätte bringen können und wollen. Also habe ich sie ziehen lassen. Ich habe mich heute fast ausnahmslos auf dem ausgeschilderten Weg bewegt, der übrigens den gleichen Verlauf hat wie die „Route Carmelita“ der Wege nach Fatima, nur in entgegengesetzter Richtung. Da klebt an den Markierungspfosten auf der einen Seite die Muschel und auf der anderen das Symbol der Fátima-Wege. Und an den Strommasten zeigt ein gelber Pfeil in die eine Richtung und ein blauer in die andere. Auch wenn die 111 km lange „Route Carmelita“ hier in Coimbra endet bzw. beginnt, wird sich daran vermutlich bis zur spanischen Grenze nichts ändern, denn Fátima ist nun mal das Nationalheiligtum der Portugiesen und den Weg dorthin zeigt man überall an.
Ich bin also heute auf dem „vorgeschriebenen“ Weg gelaufen und habe genau das vorgefunden, was ich erwartet hatte und umgehen wollte: riesige Pfützen, die einem Balancier­künste oder Umwege durchs Gestrüpp abverlangen. Das nervt und ist zeitraubend. Aber Zeit hatte ich ja.
Viele Möglichkeiten zum Einkehren gab es nicht, aber die vorhandenen habe ich genutzt - schon um das eilig aus dem Rucksack gezerrte Regencape wieder zu verstauen. Einmal hat es mich wieder binnen fünf Minuten völlig durchgeweicht. Da bin ich gerade um die Ausgrabungsstätte einer großen römischen Siedlung herumgeschlichen. Da hätte man rein gekonnt, um sich alles genau anzuschauen, aber auch über den Zaun konnte man sich ganz gut einen Überblick verschaffen. Als es zu Gießen begann, habe ich bereut, dass ich nicht doch Eintritt bezahlt habe, denn drinnen war ein Teil der Fundamente wegen der kostbaren Mosaike überdacht. Da hätte man sich unterstellen und sehr schlau dreinschauend alle Details analysieren können.
Kurz vor Coimbra ging es über und entlang der Autobahn. Für die hat man extra ein breites Stück aus einem vermutlich von den Römern stammenden Aquädukt herausgeschnitten. Kulturfrevel. Coimbra war im 12./13. Jahrhundert übrigens mal Portugals Hauptstadt. Jetzt hat die Stadt etwa 140.000 Einwohner, davon 30.000 Studenten. Heute machte es den Anschein, als ob die alle auf den Beinen sind. Überall waren große Gruppen fein in Schwarz gekleideter junger Leute mit schwarzen Umhängen unterwegs und haben irgendwelche Spielchen gemacht, die man als Fremder nicht versteht. Sie stehen wohl im Zusammenhang mit der Einführung der neuen Studenten. Der Hospitalero hat auf Anfrage erklärt, dass heute noch die Studenten aus Porto und Lissabon hier eingetroffen sind und alle zusammen feiern und Spielchen machen. Am Wasser steht ein riesiges Festzelt mit Bühne, wo gerade (kurz vor elf) ein unüberhörbares Festprogramm für die Studenten läuft. Voriges Wochenende war das in Porto so und am nächsten Wochenende treffen sich alle in Lissabon. So studiert es sich gut.
In Coimbra gibt es eine Vielzahl von Herbergen und Pensionen. Ich habe gleich die erste, noch vor dem Abstieg runter zur Brücke gewählt: die Herberge „Reinha Santa Isabel“ neben der gleichnamigen Kirche, die man inklusive Kreuzgang besichtigen kann, wenn man nicht so spät dran ist wie ich. Als ich die vermeintliche Herbergstür öffnete, stieß ich zwar auf einen Haufen Wandergepäck, aber nur auf leere Säle. Ob man sich sein Bett hier selbst aufbauen muss? Wie ich mich da so umschaue, meckert mich jemand von hinten an und sagt, dass das private Räume seien und dass ich da nicht rein, geschweige denn fotografieren dürfe. Wie sich rausstellte, war das der Herbergswirt und Betreiber der Bar gleich nebenan, durch die man muss, wenn man in die richtige Herberge will. Dass ich dort vor dem Einchecken mal in die Räume schaue, war auch nicht möglich. Ich habe trotzdem unter Abgabe eines 10€-Scheins eingecheckt, mich aber am unfreundlichen Wirt damit gerächt, dass ich sein Imbiss- und Getränkeangebot boykottiert habe, obwohl mich da ein paar Flaschen im Kühlschrank durchaus interessiert hätten. Aber wer strafen will, muss auch leiden können. Mit mir eingecheckt hat Yunli, ein aus China stammender Niederländer, der mit dem Fahrrad von Santiago über Fátima nach Lissabon und vielleicht noch weiter nach Faro unterwegs ist. Dieses Mal ist er samt Fahrrad und einer Unmenge Gepäck mit dem Flugzeug nach Santiago gekommen und fliegt auch wieder von Lissabon zurück. Er ist das Stück von Amsterdam nach Santiago aber auch schon mit dem Fahrrad gefahren.
Ich habe nur mein Bett bezogen und bin dann runter in die Stadt zum Bummeln und Einkaufen. In der Santa-Isabel-Kirche, deren Eingang neben der Treppe aus der Herberge heraus liegt, war man schon beim Einpacken, aber ich durfte noch schnell ohne zu bezahlen einen Blick in die leider nicht mehr beleuchtete Kirche werfen. Wie es im Dunkeln aussah, war da an den Wänden kaum ein Fleck nicht vergoldet. Mit Licht muss das toll aussehen. Auf dem Weg bergab hat mich Yunli eingeholt und wir sind zusammen einmal die belebte Fußgängerzone runter und durch ein weniger belebtes Viertel zurück und haben dabei fürs Abendbrot eingekauft. Ich habe wieder alles für ein Rührei zusammengeklaubt, er hat sich dafür Tintenfisch und Champignons geholt. Auf einem altmodischen Gasherd haben wir dann unsere Lieblingsgerichte bereitet. In der Küche sind wir auf William, eine italienische Aussteigertype getroffen. Er kommt aus Bergamo und ist schon seit dem 1. September mit dem Fahrrad unterwegs. Es ist sein vierter Camino, denn er war schon mal fünf Monate auf den verschiedensten, aneinander gefügten Caminos zu Fuß unterwegs. Der hat sich auch alles Mögliche gekocht und gebraten und sich dann mit seiner Ukulele an den Aschenbecher vor der Herbergstür gesetzt und eine ganze Weile sehr schön vor sich hin gespielt. Eine gute Einstimmung für das Ins-Bett-Gehen.

Camino Portugues Central - Tag 10