Unterwegs auf dem Camino Francés / Finisterre
Von Grañón nach Espinosa del Camino

Tag 10 (Sa, 7.5.2022) – Von Grañón nach Espinosa del Camino (hinter Belodoro)

Es kam hier die Frage auf, ob das bisher Erlebte meinen Vorstellungen entspricht. Für den gestrigen Tag kann ich das uneingeschränkt bejahen. Es war eine nur mäßig bergige Strecke mit weiter, unverbauter Natur. Immer wieder hübsche kleine Dörfer und mit Santo Domingo eine Fülle an Kultur. Wie immer gab es unterwegs nette Begegnungen und Gespräche, aber auch Stücken, auf denen man ganz allein war und vor sich hin sinnen konnte. Und um ein Quartier habe ich mir keine Sorge gemacht, sondern bin gelaufen so weit, wie ich konnte. (Ich muss aber nochmal gestehen, dass ich die letzten 300 Meter einen Schritt zugelegt habe, weil da jemand hinter mir war.) Ich habe problemlos eine Herberge gefunden und dazu noch eine so urige, die vermutlich schon seit vielen Jahrhunderten existiert. Der Gottesdienst in der prächtig ausgestatteten Dorfkirche, der natürlich nicht obligatorisch, aber gut besucht war, war ein guter Abschuss des Tages. Danach das gemeinsame Essen, das Abwaschen und Aufräumen waren schöne Erlebnisse und ein Zeichen der Zusammengehörigkeit von Pilgern aus der ganzen Welt. Es war ein wirklich schöner Tag und ich habe mir vorgenommen, künftig keine Gedanken mehr für die Wahl des Zielortes oder des nächtlichen Quartiers zu verschwenden - es wird sich schon was finden.

An sich habe ich ganz gut geschlafen, aber nach meinem 4-Uhr-Alte-Männer-Toilettengang war es damit vorbei. Erst jetzt habe ich mitbekommen, dass da grandiose Schnarcher unter den Mitschläfern waren. Um meine Wachphase auszufüllen, habe ich angefangen, Punkte für das stärkste und anhaltendste Schnarchen zu vergeben. Juan aus Kolumbien lag da weit abgeschlagen hinter Christian aus Koblenz. Wenn der zuhause genauso schnarcht, habe ich echte Sorge um das Kaiserdenkmal am Deutschen Eck. Harry aus der Schweiz, mit dem ich im Laufe des Tages wieder ein Stück gelaufen bin, erzählte mir, dass er den auch schon mal im Schlafraum hatte und zweimal (erfolglos) geweckt hat.

Vermutlich zu dem Zeitpunkt, an dem Christian aufgestanden ist, bin ich wieder einge­schlafen und hab dann noch bis halb sieben geschlafen - um sieben wurden auch in dieser Herberge die Langschläfer durch Lichtanschalten geweckt. Zu meiner großen Freude war im Aufenthaltsraum ein kleines Frühstück aufgebaut. Ein paar große Teller mit Weißbrot­scheiben, Butter und Marmelade, außerdem frisch gebrühter Kaffee und zwei Schalen mit Obst (Bananen, Mandarinen und Äpfel). Und dazu die Freundlichkeit der Hospitaleros, in diesem Fall zwei Frauen, die jeden durch Umarmung begrüßt bzw. verabschiedet haben. Und das alles wieder auf Spendenbasis.

Bald nach dem Abmarsch lief mir eine Frau hinterher, die ein Gespräch suchte. Ihr Mann war so von der Landschaft und den Dörfern beeindruckt, dass er gar nicht mit Fotografieren fertig wurde. Ihre erste, mitleidsvolle Frage war meinen Füßen gewidmet. „Foot Pain?“ (auf Deutsch „Blasen?“) wollte sie wissen. Es muss wirklich schlimm sein, wie ich hier durch die Gegend schlurfe, dass sich jeder nach dem Wohlbefinden meiner Beine erkundigt. Dabei habe ich bis jetzt noch keine Blase und der eine kleine Zeh, der morgens immer nach einem Pflaster verlangt, findet sich nach einer Stunde damit ab, dass es keines gibt.

Also, bei dem Paar handelte es sich um Koreaner. Die sind hier sehr zahlreich vertreten. In der ersten Herberge in Saint-Jean-Pied-de-Port hingen überall mehrsprachige Bedienungs­anleitungen für Küche, Toilette und Schlafsaal: auf Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch und Koreanisch. Nicht, dass ich deren Runen entziffern könnte - daneben waren die jeweiligen Fahnen gemalt. Die Koreaner, die ich bisher kennen gelernt habe, sprechen zwar ein noch schlechteres Englisch als ich, aber wollen sich immer unterhalten und viel erfahren. Beim Abendbrot hatte ich schon einen neben mir, der mich angesprochen hat, und die Frau, die mir nachgeeilt war, fing auch zu erzählen an, nachdem ich ihr versichert habe, dass mein Zustand nicht lebensbedrohlich ist. Sie erzählte, dass sie jetzt schon zum vierten Mal diesen Jakobsweg laufen. Der muss schon eine gewisse Faszination auslösen, sonst würde doch niemand um die halbe Welt fliegen, um hier zu laufen. Die Landschaft kann es nicht sein, denn die ist überall in Spanien schön.

Als ich wieder allein auf dem Weg war, wunderte ich mich, dass auf der etwa 100 Meter entfernten Straße LKW-Fahrer laufend hupen, obwohl sie niemand vor und hinter sich haben. Bis ich mitbekommen habe, dass dies ein freundlicher Gruß an mich ist. Die Leute sind hier so nett, es ist schade, dass ich mich nicht verständigen kann. Die Pilger unter sich grüßen sich natürlich beim Vorbeilaufen, aber auch von den Einheimischen geht keiner ohne Gruß an Dir vorbei. In Pamplona haben mir Leute von der anderen Straßenseite ein „Buen Camino!“ zugerufen. Welch ein Unterschied zu uns!

Um halb zehn bot sich der Marktplatz eines sehr kleinen, aber über 1000 Jahre alten Dorfes, Viloria de Rioja, zu einer Pause an, weil es da einen schönen schattigen Rastplatz gab. Ich hatte schon die Wasserflasche in der Hand, da durchzuckte es mich, dass ich schon seit zwei Tagen eine Bierbüchse durch die Berge schleppe. Die hatte ich mal zum Abendbrot gekauft, dann aber doch den leckeren Rioja-Wein getrunken. Wenn diese Büchse jetzt warm und damit ungenießbar wird, dann ist das Verschwendung von Lebensmitteln. Schweren Herzens habe ich mich also dazu durchgerungen, zu einer Zeit, in der andere ihren Früh­stückskaffee trinken, ein San Miguel zu konsumieren. Was tut man nicht alles, um der Lebensmittel­verschwendung entgegenzuwirken!

Während ich da saß, kam Tina aus Köpenick vorbei, die ganz traurig war, dass sie in Grañón für 40 € in einem miesen (vorgebuchten) Quartier geschlafen, aber inzwischen von der tollen Herberge gehört hat, wo sie gut noch untergekommen wäre. Sie hat das nächste Quartier in Villafranca gebucht, aber geschworen, demnächst nichts mehr vorzubuchen, sondern es drauf ankommen zu lassen. Prima, nur so wird es ein Pilgerweg!

Irgendwann bin ich mit Juan aus Kolumbien zusammengetroffen, der in der Herberge neben mir geschlafen und beim Schnarchwettbewerb verloren hat (wovon ich ihm aber nicht erzählt habe). Ich hatte irgendwann schon mal mitbekommen, dass er Deutsch spricht. Kein Wunder, denn er ist vor acht Jahren nach Deutschland gekommen, um hier sein Master­studium zu machen, und lebt seit vier Jahren in Hamburg. Wir haben uns unter anderem über die Mentalität der Leute hier, in Deutschland und anderswo unterhalten. Passend zu diesem Thema rackerte sich neben uns auf einem winzigen Acker ein Bauer mit einer Motorhacke ab. Er war völlig durchgeschwitzt und hatte schon das Hemd abgelegt. Als er mitbekam, dass ich ihn fotografiere, hat er freundlich gelächelt, bei uns wäre mindestens mit einer Klage wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte gedroht worden.

Noch vor dem Mittag war ich in Belodoro, im Reiseführer Ziel der 10. Etappe. Aber ich war ja am Vortag schon über das Etappenziel hinaus gelaufen, da waren es bis hier nur etwa 16 statt 22 Kilometer. Da konnte man gut noch ein Stück ranhängen. Ich hatte mir vorgenommen, noch etwa 10 km weiter bis Villafranca zu laufen, wo einige ein Quartier gebucht hatten. Manche, wie z.B. Juan hatten aber was schon in Belodoro gebucht und standen oder saßen jetzt vor den noch verschlossenen Herbergen. Die haben sich geärgert, denn bei dem sehr erträglichen Weg und dem schönen Wetter hätte man gut noch ein Stück laufen können, statt den ganzen Nachmittag in der zwar sehr schönen, aber kleinen Stadt zu verbringen. Immerhin gab es rings um den eindrucksvollen Platz in der Stadtmitte allein drei Restaurants.

Ich habe mich im Ort umgesehen und bin dann weiter nach Villafranca Montes de Oca. Am vermeintlichen Ortseingang habe ich gleich die erste Herberge genommen, die zwar ganz unscheinbar aussieht, mir aber irgendwie gefallen hat. Im Erdgeschoss ein Schankraum und daneben ein kleiner, gemütlicher Gaststättenraum, im Obergeschoss vier 4- bzw. 6-Mann Zimmer, zwei sehr schicke Bäder und in der Mitte ein Aufenthaltsraum mit einer gut ausgestatteten Küchenzeile. Und das für 10 €. Hinterm Tresen stand eine junge hübsche Frau, die ein wenig Deutsch spricht. Sie hat 2013 im Wien gearbeitet und hilft jetzt immer mal ihrer Mutter, der die Gaststätte/Herberge gehört. Auf meine Bitte nach einem kühlen Bier ist sie an die Eistruhe getreten und hat dort statt einem Schöller-Eis ein Bierglas herausgeholt und Mahou eingefüllt. Fantastisch. Der Bierschaum war wegen der Eiskristalle fast knusprig und über Minuten stiegen kleine Eisschollen auf.

Dann bin ich auf mein Zimmer, hab‘ den Schlafsack ausgerollt und erst einmal eine gute Stunde geschlafen. Welch eine Wohltat, keine Hektik, keine Sorgen und ringsherum nur nette Leute. Da kommt man ins Träumen. Danach bin ich raus, um meinen Freunden, die im Ort gebucht hatten, schadenfroh mitzuteilen, dass ich als konsequenter Nicht-Bucher das beste Quartier gefunden habe. Aber niemand war zu sehen und nach wenigen Metern war das Dorf zu Ende. Da habe ich erst geschnallt, dass ich nicht in Villafranca, sondern im Dorf davor, Espinosa del Camino, gelandet bin. Ansich kein Problem, aber so muss ich das Ausleben meiner Schadenfreude leider auf morgen verschieben.

Wie sich inzwischen herausstellte, sind heute außer mir nur zwei andere Pilger hier, Raffael aus Warschau und Octavio von der Insel Teneriffa, mit denen ich jetzt in der untergehenden Sonne sitze. Jeder von uns hat ein eigenes Zimmer, was ich nun leider erst morgen weitererzählen kann. Für 20 Uhr habe ich mir ein vermutlich leckeres Abendessen bestellt. Bis dahin werde ich mal noch die daheim Gebliebenen anrufen.

Derweil hat sich die Terrasse vor der Herberge gefüllt. Etwa zehn Einheimische sind eingefallen, viel mehr gibt es hier bestimmt gar nicht. Man versteht nichts, aber es macht Spaß, mitten im Geschehen zu sitzen. Bald ist gefühlt auch der ganze Rest des Dorfes auf der Terrasse eingetroffen. Ab und zu kommt einer der Männer aus der Gaststätte raus­gelaufen, um den aktuellen Stand des Spieles CAL-ALA mitzuteilen, das drinnen im Fernsehen läuft. (Es ist 4:0 ausgegangen!) Um 21 Uhr gibt es BET- BAR.

Octavio und ich sind gerade mit dem Essen fertig. Ich hatte ein leckeres 12-Euro-Menü mit einem Grüne-Bohnen-/Kartoffel-Salat als Vorspeise und einem großen, dünnen Strak mit leckeren Beilagen als Hauptgericht und hinterher einen Joghurt. Dazu einen schönen Rotwein. Ich werde sicher hervorragend schlafen. Morgen wird es bestimmt noch mal anstrengend, ich habe gerade mitbekommen, dass es vor Burgos noch mal auf mehr als 1100 Meter geht.

Zu den drei Gästen ist keiner hinzugekommen. Schade für die Wirtsleute. Die Wirtstochter hat erzählt, dass sie erst vor drei Wochen nach der Renovierung aufgemacht haben. Um auf die eingangs erörterte Frage zurückzukommen: das war jetzt schon der zweite Tag, der meinen Erwartungen sehr nahe kam! (BET-BAR steht übrigens noch 0:0.)

Camino Francés / Finisterre - Tag 10