Unterwegs auf dem Camino del Norte
Anreise von Paris nach Irun

Tag 0 (Sonntag, 5.3.2023) Anreise von Paris nach Irun

Nun sitze ich im TGV, der mich in knapp 5 Stunden vom Pariser Gare Montparnasse nach Hendaye an der spanischen Grenze bringt. Dort ist Endstation - in Spanien haben sie andere Schienen als bei uns und in Frankreich. Wer mit der Bahn weiter will, muss entweder über die Grenze nach Irun laufen oder mit einem Pendelzug rüber fahren. Ich nehme den Weg zu Fuß über die Grenze, denn in Irun ist für mich heute erstmal Schluss. Ich hoffe, dass ich einen Platz in der dortigen Pilgerherberge bekomme. Die ist angeblich fast das ganze Jahr geöffnet. Das ist laut Reiseführer bzw. Internet nicht bei allen der Fall. Insbesondere im Baskenland, also am Anfang des Pilgerweges, machen viele Herbergen erst zu Ostern auf. Da muss ich mich wohl mit der Etappenplanung drauf einstellen. Aber da fast alle Orte an der Küste Badeorte sind, wird es hoffentlich überall Pensionen oder kleine Hotels geben, in denen man außerhalb der Saison für einen schmalen Taler nächtigen kann. Ich bin überhaupt gespannt, was sich zu dieser Jahreszeit auf dem Weg abspielt. Übers Jahr verteilt laufen 60% aller Pilger, die nach Santiago wollen, auf dem Camino Francés, den ich im vorigen Jahr genommen habe. Auf dem Camino del Norte laufen nur 6%. Das ist einer der Gründe dafür, dass der Camino del Norte so gepriesen wird. Ein anderer Grund ist die schöne Landschaft an der Biskaya, die aber mit mehr Bergen versehen ist, als man beim Blick auf die Karte vermuten würde. Es kann also durchaus etwas anstrengend werden.

Von den Temperaturen her ist es laut Wetter-App auszuhalten: derzeit 5…12 Grad und trocken. In den nächsten Tagen soll es wärmer, aber auch regnerischer werden. Von den Stürmen, die zusammen mit den Felsen in der Biskaya so viele Schiffe versenken, werde ich hoffentlich verschont bleiben. Ein nicht unerheblicher Teil meines Gepäck besteht wieder aus Regenkleidung: ein Anorak (der auch ohne Regen nützlich ist), ein halbwegs wasserdichter Poncho und ein Verhüterli für den Rucksack. Wie wiederholt dargelegt, ist es nicht so einfach, den Poncho über Mensch und Gepäck zu ziehen, da muss der Rucksack mitunter einzeln verhüllt werden. Sowas wie regendichte Beinkleider sind hingegen bei mir verpönt. Schon beim Anprobieren im Laden war es nach wenigen Minuten durch den Schweiß in der Hose feuchter als sonst bei leichtem Regen.

Wenn ich Pullover, Anorak und die dicke Brieftasche am Körper habe, wiegt der Rucksack nur 6,5 kg. Das wird sich hoffentlich in den Bergen bezahlt machen. Verzichtet habe ich wie schon beim letzten Mal auf einen gedruckten Reiseführer. Da vertraue ich wieder auf die moderne Technik. Mit einem Reiseführer vor der Nase läuft man schneller gegen eine Laterne, als mit dem Smartphone in der Hand. Außerdem zeigt einem letzteres, wo man gerade ist - solange die Russen nicht die GPS-Satelliten abschießen. Auf dem Smartphone habe ich auch im Browser die spanische Gronze-Seite (gronze.com), wo alle Herbergen mit Detailangaben und Kartenausschnitt zu finden sind. Für den Notfall habe ich mir auch noch der Adressen wegen ein paar Seiten aus dem Reiseführer abfotografiert. Sofern nichts anderes ausgeschildert ist, werde ich mich bzgl. der Wegführung an die GPX-Route halten, die ich beim Kompass-Verlag heruntergeladen und in meinem Kartenprogramm (Maps.me) geladen habe. Die Karten dort sind besser als bei Komoot. Diese App werde ich aber benutzen, um den eigenen Weg aufzuzeichnen, sofern ich nicht morgens vergesse, die Aufzeichnung zu starten.

Ich war übrigens immer der Meinung, dass der Camino del Norte eine neuzeitliche Erfindung ist, die den Pilgern die schöne Küste nahelegen soll. Aber ich musste mich belehren lassen, dass dieser Weg viel älter ist, als der Camino Francés, der immer als DER Jakobsweg dargestellt wird. Als die iberische Halbinsel im Mittelalter fast vollständig von den Arabern besetzt war, konnte man nur auf dem nicht besetzten Küstenstreifen an der Biskaya gefahrlos von Frankreich nach Santiago pilgern. Erst als die Araber im Zuge der Reconquista nach Süden gedrängt wurden, ergab sich die Möglichkeit, über Pamplona, Burgos, León, Astorga usw. nach Santiago zu ziehen. Der älteste Jakobsweg ist übrigens der Camino Primitivo von Oviedo nach Santiago, der zwar relativ kurz, aber keineswegs primitiv ist, da er über ein ziemlich hohes Gebirge führt. Auf diesem Weg ist wohl damals der zuständige Bischof zum Sternenfeld („Compostela“) geeilt, um die dort angeblich gefundenen Gebeine des Apostels Jakob („Santiago“) zu begutachten - und dann eine hervorragende Marketingstrategie zu entwickeln. Auf den letzten Etappen verläuft der Camino del Norte etwas weiter westlich parallel zum Camino Primitivo. Er geht auch über die Berge, aber nicht ganz so heftig. In 4…5 Wochen werde ich das hoffentlich bestätigen können.

Von Hendaye (Frankreich) nach Irun (Spanien) führt die Straße übrigens über den Grenzfluss Bidasoa, in dem direkt auf der Grenze die geschichtsträchtige Fasaneninsel liegt. Dort haben auf quasi neutralen Boden immer wieder Verhandlungen, Friedensschlüsse usw. zwischen Frankreich und Spanien stattgefunden. Wikipedia weiß zu berichten, dass dort 1659 Ludwig der XIV. (der französische „Sonnenkönig“) und Philip IV. von Spanien den Pyrenäenfrieden geschlossen haben und dass seitdem halbjährlich wechselnd Frankreich und Spanien die Insel verwalten. Da liest man auch, dass auf der Insel einst Geiseln ausgetauscht und heiratsfähige Infantinnen übergeben wurden - wobei offen bleibt, ob es zwischen denen überhaupt einen Unterschied gab. Mal sehen, ob heute Abend die Zeit reicht, dorthin noch einen Abstecher zu machen, denn von der Brücke, über die ich muss, ist die Insel vermutlich nicht zu sehen. Auf jeden Fall will ich mir heute aber noch Hondarribia anschauen, den Ort der sich nördlich an Irun anschließt und sehr sehenswert sein soll. Ich erinnere mich, dass der Reiseführer empfohlen hat, auf dem Weg von Irun nach San Salvador einen Umweg über Hondarribia zu machen. Dann wird das aber kaum an einem Tag zu schaffen sein. Darum will ich mich da möglichst heute noch umsehen. In Spanien ist es ja abends lange hell (und morgens lange dunkel).

Gerade fuhr der Zug über die Loire. In Fahrtrichtung rechts (d. h. im Westen) war Tours zu erkennen, wo der heilige Martin, dessen Namenstag wir immer am 11. November feiern, im vierten Jahrhundert Bischof war. Kurz vor dem Fluss ging es vorbei an einem ganz verwunschen aussehenden, lang gestreckten Dorf, das förmlich an einem kleinen Hang klebte und dessen Häuser teilweise in den Berg hinein gebaut wurden. Das müssen wir uns unbedingt mal ansehen, wenn wir im Sommer auf dem Weg in die Bretagne für zwei Nächte Halt in Tours machen. Jetzt wird die Landschaft etwas welliger, kurz hinter Paris erschien sie spiegelglatt. Beim Wandern in der Gegend bin ich aber immer wieder überrascht, wie sehr es da hoch und runter geht, weil viele Orte in ziemlich tief eingeschnittenen Tälern liegen.

So, jetzt bin ich in Bayonne, wo ich im vorigen Jahr in die Bimmelbahn Richtung Saint-Jean-Pied-de-Port umsteigen musste, um auf den Camino Francés zu kommen. Jetzt ist es nur noch eine dreiviertel Stunde bis zur Endstation. Vor Bordeaux habe ich ein bisschen geschlummert, bin aber zum Glück rechtzeitig aufgewacht, um die großen Brücken über die Gironde zu bestaunen. Neben mir saß bis eben ein Asiat, mit dem ich die letzte Stunde fast ausnahmslos gequatscht habe. Ich habe den bewundert, wie schnell er in seinem Tagebuch eine ganze Seite mit Strichmännchen füllt, bis ich gesehen habe, dass dies Schriftzeichen sind, die auch auf seinem Smartphone zu sehen waren. Irgendwann ist mir dann aufgefallen, dass er Wanderschuhe anhat. Da habe ich ihn einfach gefragt, wo er herkommt und wo er hin will. Und siehe da, es war ein Koreaner, der (wie im letzten Jahr insgesamt etwa 7000) auf dem Camino Francés nach Santiago will. Er heißt Sanghyon Lee, ist 52 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter. Er arbeitet bei der südkoreanischen Küstenwache, allerdings im Büro, da muss er keine Angst vor nordkoreanischen Raketen haben. Er ist zum zweiten Mal in Europa, vor Jahren hat er mit seiner Familie eine Auto-Tour von Italien in die Schweiz gemacht. Jetzt will er sich auf seinen ersten Pilgerweg begeben und möglichst nicht nur bis Santiago, sondern bis ans Ende der Welt („Kap Fisterra“) kommen. Am 20. April fliegt er über Barcelona zurück. Er war wie ich ganz entzückt, schon auf der Anreise eine Pilgerbekanntschaft gemacht zu haben und wir haben uns gleich auf Selfies verewigt. Er war auch ganz angetan, dass ich ihm auf eckelt.de/Camino/Frances meine Route und Bilder vom Weg zeigen konnte. Na, vielleicht treffen wir uns in Santiago oder auf den letzten gemeinsamen Kilometern davor, wo unsere Wege aufeinander treffen. Oder irgendwann in den nächsten Jahren, denn in 5 Jahren will er in Rente gehen und dann viel mehr auf dem Jakobsweg laufen. Der hat da also noch keinen Schritt getan und ist jetzt schon süchtig.

Der Zug fährt gerade ganz dicht am Atlantik entlang. Gleich ist Saint-Jean-de-Luz erreicht und dann bin ich auch schon fast da. Landschaft und Wetter sind sehr verlockend. Das wird mir aber hoffentlich noch ein paar Tage erhalten bleiben.

Der Zug war auf die Minute pünktlich in Hendaye und ein paar Minuten später war ich schon in Spanien. Mein schlaues Herbergsprogramm hat mir gesagt, dass die Herberge in Irun erst um vier öffnet. Das war noch eine Stunde hin, weshalb ich mich zunächst in entgegen­gesetzter Richtung zur Fasaneninsel begeben habe. Ich bin dann aber doch nicht ganz ran, sondern nur so weit, bis ich sie gut sehen und fotografieren konnte. Die kleine Insel ist ja unbebaut und nur mit ein paar Bäumen und einem Denkmal bestanden. Rauf kommt man sowieso nicht. Aber nun habe ich wenigstens gesehen, wie bei den Franzosen und Spaniern der Ersatz für die Glienicker Brücke aussieht.

Auf dem Weg zur Herberge habe ich zunächst die Kirche angesteuert, die als Anfangspunkt dieses Jakobsweges gilt - die war aber leider geschlossen. Die Beschilderung des Weges ist hier auch etwas provisorisch mit gelben Pfeilen an Wänden und Geländern. Aber da, wo sich die Küstenvariante und eine mir noch unbekannte Variante durchs Landesinnere trennen, gab es wenigstens richtige, mehrsprachige Schilder. Der Weg zur Herberge führte durch lange, sonntags etwas verwaiste Einkaufsstraßen. Irun hat immerhin 80.000 Einwohner. Genau da, wo erwartet, fand sich dann auch die kommunale Herberge, eine ehemalige Schule, an einem Kreisverkehr am nördlichen Stadtrand gelegen. Schon von weitem war zu erkennen, dass das Gartentor offen steht, womit mir ein Stein vom Herzen fiel. Aufs Klingeln öffnete die Hospitalera (Herbergsmutter), eine kleine drahtige Frau, die fließend Deutsch spricht. Elena (wenn ich den Namen richtig verstanden habe) ist Portugiesin, hat aber über 30 Jahre in der Schweiz gelebt und einen herrlichen schweizerischen Dialekt mitgebracht. Von ihr habe ich nicht nur ein Bett und das obligatorische Einmal-Laken, sondern auch einen Pilgerausweis bekommen. Ich hätte zwar einen in Santiago erworbenen Standard-Pilgerpass dabei gehabt, aber ich wollte schon gern einen speziell für diesen Weg haben. Von den 60 Betten in drei Schlafsälen habe ich das fünfte belegt und Elena erwartet auch nicht, dass noch viele weitere Pilger kommen werden. Da das die einzige Herberge im Ort ist, werden wohl nicht viel mehr Pilger unterwegs sein. Vielleicht noch ein paar, die Pensionen bevorzugen. Unter den vier Pilgern, die vor mir da waren, sind ein etwas älterer Herr, dann ein Holländer, der in Orthez gestartet ist und schon vier Etappen hinter sich hat, sowie ein junger Mann und eine Frau. Ich glaube, die Frau ist auch eine Deutsche. Das wird sich morgen beim gemeinsamen Frühstück um 7 Uhr herausstellen. Übernachtung, Pilgerpass und Frühstück gibt es hier für eine Spende. Auch sowas ist noch möglich.

Leider habe ich von Elena erfahren, dass in San Sebastian beide Herbergen geschlossen sind. Aber kurz vorher kann man bei einer „Wohngemeinschaft“ nächtigen - in einem Reiseführer hat man spekuliert, dass das eine Sekte sei. Na, das kann man sich ja mal anschauen, die werden mich schon nicht gleich bekehren. In der Stadt gibt es aber auch bezahlbare Hostels. Mal sehen.

Ich habe hier in der Herberge nur meinen Rucksack abgestellt und bin dann los nach Hondarribia, einer wirklich schönen und sehr belebten kleinen Stadt. Im Zentrum, das von Mauern umgeben auf einem Hügel liegt, sind die Häuser alle mit farbigen Balkons oder Veranden versehen, aber auch bei den neueren Bauten außerhalb der Stadtmauer hat man diesen Stil beibehalten. Es gibt eine schöne Strandpromenade und parallel dazu nette Geschäftsstraßen, die zum Bummeln einladen und viele Restaurants bieten. In einem davon sitze ich bei einem Getränk und einem leckeren Etwas, das außen wie ein Pfannkuchen aussieht und innen mit Bacon und Käse gefüllt ist. Ich habe (mit Erfolg) beim Essen gut aufgepasst, dass mir nichts auf die Hose tropft. Dafür habe ich auf den Zahnstocher gebissen, der Bacon und Käse zusammen hielt und mit eingebacken wurde …

Camino del Norte - Tag 0