Unterwegs auf dem Camino del Norte
Von Irun nach San Sebastian

Tag 1 (Montag, 6.3.2023) von Irun nach San Sebastian

Als ich gestern Abend kurz nach acht wieder in der Herberge ankam, war im Schlafsaal schon Totenstille. Es war bei vier Mitbewohnern geblieben, die alle schon in den Betten lagen. Nur der junge Mann, ein Franzose, hat noch mit der Taschenlampe gelesen. Der hat schon mit dem Buch im Bett gelegen, als ich nachmittags meinen Rucksack abgestellt habe. Das muss ein spannendes Buch sein. Beim Frühstück hat er erzählt, dass er in Bordeaux gestartet ist, zwischendurch aber ein paar Tage „gechillt“ und das Versäumte mit dem Bus übersprungen hat. Na, das kennt man von Hape Kerkeling.

Statt auch gleich ins Bett zu steigen habe ich mich noch mit den Resten meiner Marschverpflegung in den Aufenthaltsraum gesetzt und dort mit der Hospitalera gequatscht, die dabei war, den Frühstückstisch zu decken. Sie betreut erst seit ein paar Tagen diese Herberge. Sie gehört nicht zu einem Pilgerverein, ist aber mit anderen Freiwilligen vernetzt. Man informiert sich gegenseitig, wenn irgendwo jemand gebraucht wird. Da sie in Lissabon wohnt, hätte sie eigentlich gern eine Herberge am Camino Portugues übernommen, aber in Irun gab es gerade einen personellen Engpass. Als ich um neun auf den Weg zum Schlafsaal war, kam noch ein sechster Pilger hereingeschneit: Florian aus Köln, der mit dem Zug über Paris gekommen ist, aber ab Dax die Bimmelbahn nehmen musste, da er im durch­gehenden Zug keinen Platz mehr bekommen hat. Und bei der Bimmelbahn ging es wohl nicht ganz pünktlich zu. Er will heute mit dem Zug weiter nach Santander. Er ist vor drei Jahren in Irun losgelaufen und damals wegen Corona nur bis Santander gekommen.

Ich habe nicht sonderlich gut geschlafen, da das Bett recht weich war und ich trotz Decke überm Schlafsack gefroren habe. Ich war aber auch zu faul, mir warme Sachen aus dem Rucksack zu holen. Vermutlich war ich am Anreisetag nicht k.o. genug, um im Tiefschlaf zu versinken. Um Dreiviertel sieben ging dann das Licht und auf dem Flur Musik an, was der Ruf zum Frühstück war. Zum Frühstück gab es wunderbaren Kaffee und Toastbrot. Dazu leider nur Margarine und Marmelade, wie in Spanien üblich. Es war auch nichts anderes im Haus, sonst hätte mir Elena sicher auf meine Frage hin was rausgerückt. Im festen Vertrauen auf meine Diabetes-Tabletten habe ich mir zwei Marmeladen-Stullen geschmiert und noch ein Milchbrötchen für den Weg mitgenommen.

Nach wenigen hundert Meter entlang der Straße nach Hondarribia und dann einen Flussarm entlang ging es auf einen steilen, sich in vielen Windungen nach oben schlängelnden, furchtbar steinigen Weg, der zeitweise auch als Bachbett dient, bis zu einem Kloster in etwa 200 Meter Höhe. Da war leider einschließlich der Kirche alles verrammelt. Das Kloster auf dem Berg hatte ich schon am Vortag entdeckt und meine Befürchtung, dass ich da hoch muss, hat sich bewahrheitet. Hier konnte man wählen zwischen einem Weg, der sich in etwa gleichbleibender Höhe auf der Südseite der Bergkette entlang zieht, und dem Weg auf dem Grat, der zwischenzeitlich auf über 500 Meter ansteigt. Von letzterem hat man theoretisch einen guten Blick aufs Meer, aber bei diesem trüben Wetter halt nur theoretisch. Da fiel mir die Wahl leicht. Der Weg am Südhang war ganz gut zu laufen und durch die Bäume hat man zunächst auf die Städte am Grenzfluss (Hendaye, Hondarribia und Irun) geschaut und später auf Pasaia mit einem großen Gewerbegebiet und mehreren riesigen Stellflächen für Autos. Beim steilen Abstieg auf Treppen runter zum Fluss, der bei Pasaia in die Biskaya mündet, kamen noch große Hafenanlagen in Sicht. Unten angekommen ging es vorbei an schönen alten Häusern, die sich an den Berghang lehnen, bzw. durch diese hindurch zur Fähre, die permanent verkehrt und einem für 1,10 € einen weiten Umweg um das Hafenbecken erspart.

Auf der anderen Seite des Flusses wurde dann schnell klar, dass der Jakobsweg nicht nur jedes auf einem Berg gelegenes Kloster mitnimmt, sondern auch jeden hoch auf einer Klippe thronenden Leuchtturm. Nach unendlich vielen Stufen, die zwischen der Felswand und einem Mäuerchen nach oben führen, konnte man dann alle Leuchttürme an der Hafen­einfahrt von oben betrachten bzw. ihnen in die Augen schauen.

Bei einer Rast auf diesem wirklich anstrengenden Weg habe ich Marina aus der Nähe von Wiesbaden wiedergetroffen, deren Bekanntschaft ich morgens beim Zähneputzen gemacht habe. Sie hatte vor dem Frühstück schon alles gepackt und ist nach dem letzten Bissen gleich los. Erst an besagtem Kloster habe ich sie ein- und überholt. Als ich mich auf dem vermeintlichen Gipfel auf einer Bank ausgeruht habe, kam sie ziemlich außer Atem den Weg hochgestiegen und hat neben mir Platz genommen. Beim üblichen „woher, wohin und warum“ hat sie erzählt, dass sie einen Hirntumor überstanden hat, einen Herzschrittmacher trägt, immer mal umfällt und wegen der vielen Ausfälle ihren Job verloren hat. Nun hat sie sich vorgenommen, diesen Weg zu gehen. Ihr Mann wollte sie begleiten, aber sie wollte das unbedingt allein durchziehen. Ich habe gemerkt, dass sie trotz allem freundlichen Austausch gern allein sein will. Ich hab sie auch allein ziehen lassen, aber nun immer versucht, sie halbwegs im Auge zu behalten, falls ihr was zustößt.

In San Sebastian angekommen, ist Marina zielgerichtet in Richtung Strand abgebogen, ich bin weiter geradeaus, um nicht den Anschein zu erwecken, dass ich ihr nachsteige. Ich habe dann erstmal Booking.com aufgerufen, um zu sehen, was es an Hostels gibt. Die Auswahl war erfreulicherweise groß und vielfältig, darunter auch einige preiswerte. Ich habe gleich das nächstgelegene genommen, das Surfer-Hostel „Surfing Etxea“ in der zweiten Straße vom Strand aus gesehen. Das besteht aus einer kleinen Bar und darüber drei Schlafräumen und sehr ordentlichen Sanitäranlagen. In meinem Acht-Mann-Zimmer war nur ein Bett belegt: von einem echten Surfer aus der Schweiz. Ich wusste gar nicht, dass Surfen dort Volkssport ist.

Ich habe nur meinen Rucksack abgestellt und mich dann auf Stadtbummel begeben. Den besten Überblick versprach die Festung auf der Halbinsel, die zwischen den Stränden ins Meer ragt. Die ist auf einem Berg gelegen und wird von einer großen Christus-Statue gekrönt, die auf die Stadt blickt. Der Berg ist so richtig was für Leute, die tagsüber noch nicht genug geklettert sind. Der ist zwar nur 125 Meter hoch, aber hier ist Brutto gleich Netto, da man ja auf Meereshöhe startet. Der Blick runter auf die Stadt hat jedoch den mühsamen Aufstieg gelohnt. Vom vielen Fotografieren war allerdings der Akku schnell fast leer. Da mir ohnehin ohne Anorak kalt wurde, als die am Nachmittag doch noch heraus gekommene Sonne unterging, bin ich mit einem Abstecher zur Kathedrale zurück ins Hostel und kurz vor acht wieder los. Trotz eines Burgers zwischendurch hatte ich Hunger und Appetit auf Muscheln, die an der Fähre in Pasaia angepriesen wurden, aber nicht zu haben waren, weil das Restaurant noch zu war. Hier in San Sebastian habe ich vergeblich nach Muscheln gesucht. Das einzige, was mich sonst noch in dieser Richtung gereizt hätte, wäre eine Paella gewesen. Die habe ich auch in einem Restaurant gefunden, aber für die 14,50 €, die dafür verlangt wurden, hat der Chinese neben meinem Hostel ein ganzes Menü inklusive Getränk und Eis oder Kaffee hinterher angeboten. Da bin ich hin und habe mir dort mit der englischen Speisekarte ein Menü zusammengestellt: scharfe Suppe, Nudeln mit drei Köstlichkeiten (Möhre, Salat und Wurststreifen) und Kalbfleisch mit Pilzen. Das muss vielleicht nicht in den Michelin, hat aber gut geschmeckt. Das Personal (Mutter und Tochter) hat hinterm Tresen gekichert, als ich bei der „Spicy Soup“ erst gehüstelt und mir dann laufend die Nase geschnäuzt habe. Und da der Hausherr dann auch noch bedeutungsvoll nickend an meinen Tisch vorbei kam, müssen die ihm wohl von dem komischen Gast erzählt haben.

Nun bin ich im Hostel in Bett 13, was hoffentlich kein Ungemach bringt, und werde gleich das Licht in der Koje löschen. Gute Nacht.

Camino del Norte - Tag 1