Unterwegs auf der Via de la Plata und dem Camino Sanabrés von Sevilla nach Santiago de Compostela
Tag 37 (Di, 2.4.2024) Ourense - Cea / 23,2 km
Heute war es bereits um viertel acht, als ich aufgewacht bin. Und auch in den anderen Betten war noch Totenstille. Dabei soll man doch bis acht aus der Herberge raus sein. Aber, wenn einer anfängt, dann sind schnell alle raus aus den Betten und beim Packen. Wir waren nur zu fünft in der Herberge - bei der zentralen Lage und dem Preis (10 €) unverständlich. Ich hatte ja befürchtet, dass viele, die in Ourense auf die letzten 100 km starten, zuvor hier übernachten werden. Aber alle Mitbewohner waren schon länger unterwegs: das spanische Paar, das schon in A Gudiña in der Herberge war; Victor, ein junger, in Portugal lebender Brasilianer, der mit dem Fahrrad in Mérida gestartet ist; und Don, ein Litauer, der in Málaga losgelaufen ist.
Als ich um viertel neun aus der Herberge raus bin, hat es gerade mal für eine Weile aufgehört zu regnen. So konnte ich mich beim Weg durch die Stadt noch etwas umsehen. Es ging in Richtung Norden durch die Altstadt bis zum Parque de San Lázaro, wo ich wieder auf den Camino traf, der etwa ab da bergab runter zur Römerbrücke über den Rio Miño führt. Die Brücke, die sich auch im Stadtwappen von Ourense wiederfindet, ist ein imposantes Bauwerk mit unerwarteten Dimensionen: sie ist 38 m hoch und der mittlere Bogen hat eine Spannweite von 43 Meter. Wenn man da hochsteigt, ist man auf Höhe der oberen Geschosse der Wohnhäuser und hat eine ganz gute Aussicht, zum Beispiel auf die benach­barte Milleniumsbrücke mit ihrer gewagten Konstruktion.
Bald hinter der Brücke teilt sich der Camino in zwei etwa gleich lange Varianten, die leider beide einen ziemlich steilen Anstieg von 400 m beinhalten. Ich habe auf eine Empfehlung hin die rechte, über Tamallancos führende Variante gewählt. Während ich mich am Stadtrand die Schräge hochquäle, kommt von hinten ein munteres Stimmengewirr immer näher: eine große Pilgergruppe mit einem Kreuzträger an der Spitze. Es waren portugiesische Pilger ganz verschiedenen Alters - insgesamt 54, wie mir eine Deutsch sprechende Teilnehmerin verriet. Die sind in Ourense gestartet und wollen nach Santiago. Das leichte Gepäck auf den Rücken lies vermuten, dass sie etwas anders pilgern, als wir. Frisch, wie die waren, sind sie auch noch zu einer ganz oben auf dem Berg gelegenen Kapelle gestiegen, von der man bei schönem Wetter sicher einen tollen Blick hat. Ich habe mir derweil den Regenponcho übergezogen, weil der Regen stärker wurde - und mit wenigen Unterbrechungen so blieb. Bis Tamallancos bin ich auf dem ausgeschilderten Weg geblieben, der durch Felder und gespenstig aussehende Wälder führt und meist von bemoosten Mauern eingefasst ist. Es standen zwar viele Pfützen auf dem Weg und es gab reichlich matschige Passagen, aber da kam man überall halbwegs gut drum rum.
In Tamallancos, etwa auf der Hälfte des insgesamt 22 km langen Weges, fand sich an der Hauptstraße (N-525) endlich eine Gelegenheit, einzukehren. Im recht vollen Gastraum sehe ich doch dort zwei Damen sitzen, die mir sehr bekannt vorkamen: Christel und Sybille, die auf wundersame Weise drei Tage Rückstand aufgeholt haben. Die Freude war groß und die Umarmung herzlich. Da sie eigentlich gleich aufbrechen wollten, haben wir aber gar nicht viel gequatscht, sondern das auf den Abend verschoben. Sie hatten ja die gleiche Herberge wie ich als Ziel. Ich konnte sie also bitten, mir ein Bett im Unterdeck zu reservieren, was sich aber als unnötig erwies, da die meisten der zwischenzeitlich gesichteten und teilweise noch in der Gaststätte sitzenden Pilger ein anderes Ziel hatten.
Ich habe also keine Eile gehabt, sondern mir noch einen riesigen Burger kommen lassen, der sehr lecker war. Zum Bier gab es eine Art Studentenfutter mit kleinen Fruchtbonbons drin. Diese kleine Sünde wollte ich mir nicht entgehen lassen und habe zwei in den Mund und den Rest in eine Serviette gewickelt in die Hosentasche gesteckt - was man bei Regen lieber nicht machen sollte. Nach zwei Stunden hatten die das Prädikat „vorgelutscht“ verdient.
Ich war noch beim Burger, als die Tür aufging und die portugiesischen Pilger, inzwischen auch alle mit Ponchos verkleidet, das Lokal stürmten und mit Ihren vielen Bestellungen das allein hinterm Tresen stehende Mädel in Bedrängnis brachten. Während sich die Mehrzahl an einem Kaffee ergötzte, waren zwei aus der Truppe in einer Ecke dabei, 54 Pilgerpässe mit einem Stempel zu versehen. Vor dem Lokal stand der unschwer an der portugiesischen Autonummer zu erkennende „Pilgerbus“, mit dem die Truppe später verschwand. Ich werde die 54 bestimmt in Santiago beim Abholen der Pilgerurkunde (Compostela) vor mir in der Schlange stehen haben. Man könnte das ganze Verfahren dadurch vereinfachen, dass die Busunternehmen neben der Fahrkarte auch gleich die Compostela ausstellen.
Für die nächsten Kilometer bin ich auf der Fernstraße geblieben, da der parallel dazu verlaufende Camino schon ziemlich unter Wasser stand und der strömende Regen das bestimmt noch verschlimmert. In San Christovo ereilte mich die Nachricht, dass für mich ein Bett reserviert ist und ich mich nicht beeilen müsse. Das traf sich gut, da es ausgerechnet dort eine offene Bar gab, in der man sich etwas aufwärmen konnte. Die kleine, schon ältere Wirtin hatte zwar eine weiße Bluse an, aber Hosen, die aussahen, als ob sie gerade aus dem Schlachthaus käme. Da es eh nur Flaschenbier gab, hatte ich aber keine hygienischen Bedenken. Der nächste Ort war schon mein Zielort, Cea. Am Ortseingang tummelte sich vor einer Bar eine größere Gruppe Jugendlicher, alle im Pilgeroutfit und mit leichtem Gepäck. Daneben stand schon deren Pilgerbus, dieses Mal einer mit spanischer Nummer. Hoffentlich stehen die nicht auch alle vor mir im Pilgerbüro in der Warteschlange.
Cea ist ein netter kleiner Ort mit größtenteils gut erhaltener alter Bebauung. Es gibt einen zentralen Platz mit einem eigenwilligen Glockenturm. Rings herum und in den Seitenstraßen sind ein paar wenige Geschäfte, ein kleiner Supermarkt und eine Bar. Die Pilgerherberge ist in einem urigen alten Gebäude untergebracht, das von außen den vielen Bruchbuden ähnlich sieht, aber gut ausgestattet und vor allem warm ist! Im Erdgeschoss sind ein gemütliches Foyer, eine kleine Küche, der Speiseraum und die Sanitäranlagen. Im Obergeschoss ist der Schlafsaal mit etwa 20 Doppelstockbetten, alle mit Zwischenwänden, Leselampe und USB-Anschluss. Zwischen den Betten hängen überall elektrische Heizkörper, die auf 23 Grad oder mehr eingestellt waren. Und besonders wertvoll: im Erdgeschoss hängen zwischen den Sanitäranlagen an der Wand drei elektrisch beheizte Handtuchhalter, an denen frisch gewaschene Wäsche ganz schnell trocken wird. Da im Bad auch noch ein dickes Stück Seife herumlag, habe ich die Gelegenheit genutzt, den Inhalt meines Wäschesacks geruchsmäßig zu neutralisieren und wieder benutzbar zu machen. Die Socken haben bis zum Morgen zum Trocknen gebraucht, den Rest konnte ich noch vor dem Schlafengehen abnehmen. Da es mal wieder Töpfe, Teller und Löffel gab, habe ich mir aus dem Supermarkt nicht nur Aufschnitt und Getränke mitgebracht, sondern auch mal wieder eine Tütensuppe. Die hätte ich eigentlich nicht gebraucht, denn zeitgleich mit dieser köchelte Victors brasilianische Kürbissuppe auf dem Herd, wovon er allen Interessenten bereitwillig abgegeben hat. Es gibt hier fertig zubereitet einen Kürbis-Karotten-Mix in der Dose, den hat er noch durch Zucchini ergänzt. Dazu noch geschmorte Zwiebeln und bisher noch nie gesehene Hühnersuppe aus dem Tetrapack, damit das Ganze schwimmen kann. Zum Abschmecken solcher Gerichte hat Viktor in einem Beutelchen ein ganzes Sortiment an Gewürzen in kleinen Tütchen bei. Ich habe mich zu einem Schälchen seiner Suppe überreden lassen. Alfred Biolek hätte gesagt „es hat interessant geschmeckt“. Ich war ganz froh, dass ich noch meine 70-Cent-Knorr-Hühnersuppe zum Nachspülen hatte.
Mir gegenüber lag Don aus Litauen, der sich für diverse Caminos 100 Tage Zeit genommen hat, wovon knapp die Hälfte rum ist. Er ist, wie schon gesagt, in Málaga gestartet, weil er möglichst lange im sonnigen Süden Spaniens laufen wollte. Das scheint bei ihm aber nicht besser geklappt zu haben als bei mir, denn sein großes Problem ist ein abgesoffenes Smartphone. Das kenne ich von irgendwo her. Nur das seins gar nicht mehr benutzbar ist. Er hat zwar die SIM-Karte retten können und sich ein neues Smartphone besorgt, aber die Banking-Apps muss man ja wieder neue installieren und freischalten lassen. Und irgendwie muss er beim Probieren sein Konto gesperrt haben. Das ist aus der Ferne aber nicht so leicht zu korrigieren. Nun muss er seine Reisepläne davon abhängig machen, wie weit sein Bargeld reicht bzw. wann er wieder an sein Konto kommt.
Als ich um viertel sechs in der Herberge ankam, war der Hospitalero schon verschwunden - kein Problem, denn mein Bett hatte ich ja, auf die Einmal-Bettwäsche kann man unter Zuhilfenahme eines Handtuchs auf dem Kopfkissen auch mal verzichten und Pilgerstempel, von denen man auf den letzten 100 km täglich zwei braucht, hatte ich schon unterwegs gesammelt. Außerdem kommt ja üblicherweise der Hospitalero zwischen sieben und acht nochmal, um die Nachzügler abzukassieren. Das blieb aus. Als die Mädels um viertel zehn vom Abendessen aus der Bar kamen, erzählten sie, dass er dort sitzt und sicher nicht nochmal kommt. Aber er kam doch, vorsichtigen Schrittes, im zitronengelben Anzug, mit Mantel und Baskenmütze, als ich noch im Foyer saß. Nachdem er dreimal sein Kämmerlein aufgeschlossen hat und mit einer Klopapierrolle oder ähnlichem an mir vorbeigelaufen ist, habe ich ihn gefragt, ob er denn nicht auch von mir 10 € haben will - auf einer Pilgertour prellt man schließlich nicht Zeche oder Logis. Ja, das Angebot wollte er nicht abschlagen und hat sein Kämmerlein noch ein weiteres Mal aufgeschlossen, um mir eine Quittung und den Stempel in den Pilgerpass zu geben. Darauf, die Personalien aufzunehmen, hat er in Anbetracht der späten Stunde und der persönlichen Verfassung aber verzichtet.

Via de la Plata - Tag 37