Tag 26 (Mo, 06.11.2023) Santiago
Ich habe mal unanständig lange geschlafen, fast bis halb neun. Das Bett war ok, mit Vorhang, drinnen ein kleines Bord für Brille und Telefon, außerdem Leselampe, Steckdose und 2mal USB-Anschluss. Daneben ein sehr geräumiges Schließfach, abschließbar mit der Key-Card, die auch Haus- und Zimmertür öffnet. Nach einem Frühstück mit den Resten aus dem Rucksack bin ich raus zum nahen Pilgerbüro und habe mich da als Nummer 6 angestellt, etwa eine halbe Stunde vor Öffnung des Büros. Bekanntermaßen bekommen doch täglich die ersten 10 Pilger einen Gutschein für ein Essen im besten Haus am Platze, dem Parador-Hotel neben der Kathedrale. Beim letzten Mal, als ich vom Camino del Norte kam, habe ich unbeabsichtigt einen solchen Gutschein bekommen, aber nicht nutzen können, weil mittags schon mein Bus nach A Coruña ging, von wo ich noch die kurze Variante des Camino Inglés laufen wollte. Antoine, dem jungen Bretonen, der mit mir in der Reihe stand, ging es ähnlich, denn mittags ging sein Flixbus zurück nach Irun. Wir haben damals unsere Gutscheine dem französischen Paar (Hubert & Caroline) geschenkt, das mit uns unterwegs war.
Dieses Mal wollte ich mir das nicht entgehen lassen, obwohl Roland Marske, mein Lieblingsautor bzw. -filmer in Sachen Jakobsweg sagt „Ich habe schon in schlechteren Restaurants besser gegessen.“ Es hat geklappt. Allerdings wurden die Gutscheine nicht wie damals vor der Tür verteilt, sondern von dem ausgegeben, der die Nummern für die Schalter mit der Compostela-Ausstellung vergibt. Ich bin also zwangsweise noch ein zweites Mal als ankommender Pilger erfasst worden. Aber bei einer knappen halben Million verzerrt dies die Statistik nur unerheblich. Das Essen war für 13 Uhr terminiert, da waren also noch drei Stunden Zeit. Da es regnete, fiel der Stadtbummel aus und ich bin direkt in die Kathedrale. Ich habe mir dort nochmal alles gründlich angeschaut. Dieses Mal war erstmals das Treppchen geöffnet, mit dem man zu dem Jakobus überm Altar hochsteigen und ihn von hinten umarmen kann. Da bin ich natürlich hoch, aber statt ihn zu umarmen, habe ich ihm wie einem Mitpilger auf die Schulter geklopft. Schließlich hat er es auch bis Santiago geschafft, wenn auch nicht lebendig. Da oben steht übrigens eine Dame vom Sicherheits­dienst, damit nicht jemand beim Umarmen versehentlich einen der roten Klunker mitgehen lässt, mit denen Jakobus‘ Umgang geschmückt ist. In einer Kapelle habe ich dann den 11-Uhr-Gottesdienst miterlebt und da es draußen noch regnete, anschließend noch den 12-Uhr-Pilgergottesdienst am Hauptaltar. Wieder ganz gut besucht und ohne Weihrauchfass.
Kurz vor eins versammelten sich die Gutscheininhaber vor dem Restaurant „Enxebre“ im Untergeschoss des Hotels „Hostel des Reis Catolicos“. Trotz Regen hat man uns da erst Punkt eins die Tür geöffnet und uns den Zehner-Tisch in einer Ecke des noblen Restaurants zugewiesen. Wir waren vier Spanier (drei Frauen und ein Mann), die von Valença bzw. ein Stück weiter weg den Camino Portugues gelaufen sind, zwei Italiener, die auf dem Camino Inglés von Ferrol gekommen sind, eine junge Taiwanesin, die auf dem Camino Primitivo war, und eine ältere Australierin, die den Camino Francés gelaufen ist. Ein Platz blieb leer. Das Essen war gut, wenn auch nicht außergewöhnlich. Suppe, Paella mit allem Getier, welches das Meer zu bieten hat, und ein Stück Kuchen. Die Bedienung war korrekt und freundlich, aber man hat nicht unbedingt das Gefühl gehabt, wirklich willkommen zu sein. Keine Begrüßung, keine Frage, ob’s geschmeckt hat, kein Abschiedsgruß oder ähnliches, was man hätte erwarten können. Vermutlich hat man nach unserem Abrücken die Ecke erstmal gründlich desinfiziert.
Der laut Wetter-App so schöne Tag hatte auch danach nur Regen zu bieten. Ich habe deshalb nur schnell nach Bekannten Ausschau gehalten und bin dann zu einem Mittags­schläfchen ins Hostel. Ich habe wirklich Bekannte getroffen: Monika, die mir mal mit ihrem Schnarchen den Schlaf geraubt hat, und Peter, den deutschstämmigen Ungarn, zusammen mit Annette, die ihre Krücken neben sich zu liegen hatte. Sie hat sich tatsächlich trotz Bänderzerrung bis hier her gequält. Da ihr Flug am nächsten Tag sehr zeitig geht, wollte sie noch abends zum Flughafen und dort übernachten - „Schlafsack habe ich ja dabei!“.
Nach dem Schläfchen habe ich mich auf Apothekentour begeben, um der Verwandtschaft die gewünschten Cremes mitzubringen. Die Preisanfrage bei verschiedenen Apotheken ergab, dass der Preis überall gleich ist. Interessanterweise wollten manche Apotheken ein Rezept sehen, während andere die Creme anstandslos rausgerückt haben. Es hatten aber alle nur eine Tube im Bestand, weshalb da ein paar Apotheken anzusteuern waren. Da die aber außer in der Innenstadt alle mit dem großen leuchtenden, grünen Kreuz, das Uhrzeit und Temperatur (ging runter von 12 auf 9 Grad) anzeigt, ausgestattet sind, war die Suche recht einfach. Ich bin allerdings beim Ansteuern grüner Leuchtreklame auch mal im Parkhaus gelandet, wo ein grünes „Libre“ unterm „P“ leuchtete.
Ich habe dabei auch ein paar Ecken der Stadt kennengelernt, in denen ich zuvor noch nicht war. Die Apothekentour war deshalb keinesfalls lästig, sondern lehrreich. Allerdings ist es gar nicht so einfach, sich ohne Smartphone im Gewirr der vielen kleinen Gassen der Innenstadt zurechtzufinden. Da freut man sich über jedes Schild, das zur Kathedrale weist. Mein Smart­phone hatte ich nämlich auf Anraten des netten jungen Mannes an der Rezeption in einen Tiefschlaf versetzt. Ich hatte ihn gebeten, für mich das Check-In für den Rückflug zu machen und mir die Bordkarten auszudrucken, falls das Smartphone ausgerechnet auf dem Flug­hafen schlechte Laune hat. Er hat das gleich gemacht und das dafür hingelegte Trinkgeld entschieden zurückgewiesen. Beim Anblick meines Smartphones hat er sofort diagnostiziert, dass der Akku durch die Nässe aufgebläht ist und von hinten gehen das Display drückt, warum da manche Bereiche nicht nutzbar sind und andere offenbar von allein irgendwelche Tasten drücken. Das ist wohl eine typische Krankheit von Pilger-Smartphones, er ist schon öfter damit konfrontiert worden und wusste auch jemand, der das durch Akku-Tausch beheben kann. Er hat in dem Telefonladen angerufen, aber die hätten das erst am nächsten Tag machen können. Da kann ich auch bis zuhause warten.
Eine völlig unerwartete Begegnung hatte ich noch auf meiner abendlichen Tour. Da bin ich in einer der Gassen auf John gestoßen, den über 70jährigen Kalifornier, der im Frühjahr mit seiner Tochter Tori auf dem Camino del Norte unterwegs war. Wir sind da mehrfach in der gleichen Herberge gewesen, haben uns oft unterwegs getroffen und auch mal zusammen in der Kneipe gesessen. Er ist jetzt allein die 1000 km der Via de la Plata ab Sevilla gelaufen und hat noch die 200 km des Rundkurses Santiago-Fistera-Muxia-Santiago rangehängt. Den hat ganz offenbar auch die Sucht nach dem Camino gepackt, von der so ziemlich jeder Pilger nach dem ersten Weg befallen ist. Raoul hatte ich übrigens am Nachmittag auch noch mal getroffen. Da ist er auf den Weg nach A Coruña gestartet, von wo aus er dann die Heimreise nach Barcelona mit dem Zug antreten wird.
Es ist unglaublich, dass man in dieser großen Stadt unter den unendlich vielen Pilgern und Touristen immer wieder auf Bekannte trifft. Auch wenn man allein als Pilger unterwegs ist, ist man doch Teil einer großen Gemeinschaft. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass einen so schnell die Camino-Sucht packt.

Camino Portugues Central - Tag 26