Mittwoch, 6.9.2023, von Weischlitz nach Hof / 25,1 km

12.45 Uhr. Die Reihe netter Leute reißt nicht ab. Da es in der Herberge keinen Pilgerstempel gab und ich vergessen habe, beim Bäcker nach einem Stempel zu fragen, habe ich in den nächsten, noch zu Weischlitz gehörenden Dörfern nach einer Firma Ausschau gehalten, die mir einen Stempel mit dem Ortsnamen in den Pilgerpass drücken kann. Die liebsten Firmen sind in solchen Fällen Gasthöfe. Und siehe da, in Ruderitz stand ich plötzlich vor einem alten Fachwerkhaus mit Kneipe. Da ist zwar offiziell nur am Wochenende geöffnet, aber die Tür stand offen und auf mein Rufen kam der Wirt. Ich habe ihm mein Anliegen vorgetragen und er begab sich auf die Suche nach seinem Stempel, den wir schließlich gemeinsam gefunden haben. Er hat mich nach dem Stempel-Akt noch gefragt, ob ich was trinken will, vielleicht ein Wasser. Ich meinte, das wäre eine gute Idee, dass es aber nicht unbedingt Wasser sein müsste, sondern dass es auch ein Bier täte. Dabei habe ich auf deinen Zapfhahn geschielt, aber die Anlage wird ja erst am Freitag wieder angeschmissen. Er ist daraufhin nebenan ins Haus und kam nach einer Weile mit einem leckeren, eiskalten Mönchshof-Zwick‘l zurück, für das er nicht mal etwas haben wollte. Ich habe brav gedankt und mich mit der Flasche in einen schattigen Pavillon auf dem Hof gesetzt. Es hat nicht lange gedauert und der Wirt kam dazu und nach dem üblichen „wohin?“ und „woher?“ entwickelte sich ein sehr schönes Gespräch. Er erzählte von einem Pilger, der schon dreimal bei ihm übernachtet hat - jeweils auf dem Weg nach Santiago, Rom und Jerusalem. Danach hat er nichts mehr von ihm gehört. Ein anderer aus der Gegend ist auf dem Weg von Plauen nach Santiago bis Frankreich gekommen und hat dort aufgegeben, weil er ohne Sprachkenntnisse nicht weiter kam. (Meine große Sorge!) Ein paar Jahre später hat er dann aber allen Mut zusammen genommen und an dieser Stelle in Frankreich weitergemacht - bis Santiago.

Der Wirt selbst dreht hier wegen kaputter Knie nur kleine Runden, um nach einer schweren OP wieder fit zu werden. Er erzählte, dass er in den 1990ern lange in Frankreich gearbeitet hat. Ein großer deutscher Konzern hatte den Auftrag für die Verkabelung neuer Wohngebiete gewonnen und er war da als Spezialist für SECAM gefragt. Wir haben doch seinerzeit bei der Einführung des Farbfernsehens (1969) das in Frankreich und beim „großen Bruder“ benutzte SECAM-System und nicht das in Westdeutschland und anderen Ländern verwendete PAL-System übernommen. Darum konnte man ja anfangs mit einem Ostfernseher Westsender nur in Farbe sehen, wenn man ein Zusatzgerät hatte, das PAL in SECAM wandelt.

Er hat sich in der Zeit selbständig gemacht und wäre gern in Frankreich geblieben, wenn er richtig Französisch gekonnt hätte. Aber nun hat er sich hier die Gaststätte zugelegt und betreibt diese als Hobby, statt sich mit 65 zur Ruhe zu setzen.

18.45 Uhr. Ich bin gerade in Hof angekommen und warte im Haus am Klosterhof auf den Schlüssel für die gegenüber liegende Pilgerherberge. Beides gehört zur „Sozialstation Oberfranken“. Das Personal hier ist aber gerade mit Essenverteilen auf der Pflegestation beschäftigt. Das macht nichts, hier gibt es bequeme Sessel und eine Steckdose in der Nähe, die ich dringend brauche, weil das Smartphone fast leer ist und die Powerbank auch nichts mehr rausrückt. Ich muss wohl bei der nächsten Tour die größere Version (10000 mAh) mitnehmen, um sorgenfrei über den Tag zu kommen. Ich musste jetzt schon wiederholt am Nachmittag den Flugmodus einschalten, damit das Smartphone nicht abschaltet und ich ohne Landkarte dastehe. Als einen Übeltäter habe ich übrigens die „Notizen“-App identifiziert, denn immer wenn ich wie heute unterwegs was geschrieben habe, sah es abends so mau aus. Warum ein primitiver Editor so viel Strom frisst, ist mir rätselhaft.

23.00 Uhr. Ich habe längst das Pilgerzimmer bezogen, was eingekauft, gegessen, geduscht und den halben Bücherschrank leer gelesen. Nun will ich noch den Tagesbericht komplettieren, wohl wissend, dass ich den heute nicht mehr verschicken kann, weil nicht nur im Pilgerzimmer hinter dicken Klostermauern, sondern auch auf dem Hof kein Internet-tauglicher Empfang ist und kein WLAN zur Verfügung steht. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn ich mir nicht noch eine Zugverbindung für die Rückfahrt nach Berlin raussuchen müsste. Ich habe aber auch keine Lust, nachts durch die Stadt zu ziehen, bis mal brauchbarer Empfang ist. Ich werde morgen ausschlafen und mich dann zum Bahnhof begeben, wo ich mich überraschen lasse.

Zur Liste der netten Menschen kann ich noch zwei hinzufügen. Das ist einerseits eine Mitarbeiterin des Gutshofes in Gumpertsreuth, die mir durch die Hintertür des geschlossenen, zum Gutshof gehörenden Gasthofes eine Flasche kaltes Sprudelwasser besorgt hat, und andererseits ein Herr Günter Müller, den ich zwar nur vom Telefon kenne, dem ich aber diese gute Unterkunft in Hof zu verdanken habe. Er hat diese vor gut zehn Jahren etabliert und fungiert als Pate der Herberge. Diese besteht aus zwei quadratischen Räumen von je etwa 10 Quadratmetern. Im hinteren Raum stehen zwei Doppelstockbetten und im vorderen Tisch und Stühle, ein Küchenbüffet mit Geschirr, Besteck und vielen nützlichen Dingen wie z. B. Schraubenziehern und Verbandszeug. In einem kleinen Regal finden sich zudem ein paar haltbare Lebensmittel, Getränke und Süßigkeiten, die man sich gegen eine kleine Spende nehmen kann. Ein Wasserkocher nebst Kaffee und Tee steht auch zur Verfügung. Außerdem gibt es jede Menge Lesematerial zur Via Imperii und den anderen Jakobswegen, die durch Hof führen. Dusche und Toiletten sind über den Flur zu erreichen. Da sonst niemand im Haus ist, ist das kein Problem.

Zum heutigen Weg wäre noch zu sagen, dass der mächtig geschlaucht hat, da es mit 26 Grad ziemlich warm war und hier doch ein paar Berge übers Land verteilt sind. Das sind alles keine Riesen, aber es geht permanent hoch und runter. Von der ehemaligen Grenze ist nicht mehr viel zu sehen. Einen Wachturm und einen Kolonnenweg mit daneben liegenden Graben, der die Flucht mit Fahrzeugen verhindern sollte, habe ich entdeckt, aber an welcher Stelle ich „rübergemacht“ bin, kann ich gar nicht sagen. Irgendwann sahen die Dörfer nicht mehr so verlassen aus, wie die auf ostdeutscher Seite im Grenzgebiet. Da stehen einige Häuser leer und manche sind verfallen. Wenn da zu DDR-Zeiten jemand weggezogen oder verstorben ist, kamen ja keine neuen Bewohner hin. Dann verfiel halt das leere Haus.

Von Hof bekommt man zuerst ein großes Gewerbegebiet mit lauter Logistik-Unternehmen zu sehen, darunter Amazon. Dann geht es, zumindest auf dem Weg, den ich genommen habe, auf einer endlos langen Straße durch eine Einfamilienhaussiedlung die Stadt hinein.

Ich habe es heute mit der „vorgeschriebenen“ Streckenführung nicht so ernst genommen. Weischlitz, wo ich übernachtet habe, liegt eh etwas abseits vom Jakobsweg. Ich bin nicht auf kürzestem Wege wieder auf den Weg, sondern schräg auf diesen zugelaufen. Da viel früher als lt. GPS-Track die Muschel an den Bäumen auftauchte, scheint die Ausschilderung eh nicht genau dem Track zu folgen - oder umgekehrt. Vor Hof habe ich dann absichtlich einen anderen Weg gewählt, nämlich den vom Routenplaner des Smartphones empfohlenen, kürzesten Weg. Der andere wäre in nicht nachvollziehbaren Schleifen, teilweise direkt neben der Autobahn verlaufen. So bin ich vom (geografischen) Osten statt vom Norden in die Stadt gekommen. Hier musste ich mich erstmal zur Lessingstraße, wo die Herberge ist, durchfragen, da bei dem schlechten Empfang in der Karten-App kein Suchen möglich ist. Vier Damen an der Haltestelle haben mir erklärt, wo die Straße ist, und dass ich gleich über den Rathaushof abkürzen kann. Das war eine gute Idee, denn da wurde gerade ein Fest gefeiert. Der ganze Hof stand voller Biertischgarnituren, es gab Fassbier und Wurst zu Dumpingpreisen und eine 3-Mann-Schrammelband. Das war ein Empfang, wie ich ihn liebe!

Via Imperii - Weischlitz-Hof