Unterwegs auf dem Camino del Norte
Von Deba nach Ziortza

Tag 4 (Donnerstag, 9.3.2023) von Deba nach Ziortza

Es ist kurz nach sechs. Aufstehen lohnt nicht, da es erst nach 7 Uhr hell wird. Eine Küche, wo man sich Frühstück machen könnte, gibt es nicht. Außerdem würde man in dem engen Raum alle wach machen. Aber sobald einer beginnt, bin ich dabei, die Sachen zu packen. Gestern waren es knapp 30 Kilometer und heute wird es ähnlich heftig werden. Das eigentliche Tagesziel ist Markina-Xemein, 24 km entfernt mit reichlich Bergen unterwegs. Da es dort aber derzeit nur Pensionen gibt, würde ich gern noch 7,5 km weiter bis zu einem Kloster mit Herberge kommen. Mal sehen, ob das zu schaffen ist. Das Wetter soll ganz gut werden: warm und trocken und vormittags mal ein paar Stunden Sonne.

9.00 Uhr. Inzwischen ist der erste Berg erklommen. Ich sitze im Wirtshaus „Pikua“ und genieße bei einem „Café con leche“ den Blick aufs Meer. Dass das Wirtshaus, in dem man auch übernachten kann, offen ist, ist schon mal ein Wunder, da es nach Auskunft der Hospitalera in Deba nur sehr sporadisch geöffnet hat. Es ist, von Deba kommend, auch nur als Wirtshaus zu erkennen, weil Bierkisten neben der Hintertür stehen. Kein Schild, keine Reklame. Um zu überprüfen, ob offen ist, muss man erst ein paar Meter bergab und über die große Terrasse laufen. Ich habe den kleinen Umweg in Kauf genommen und wollte auf der Terrasse schon umdrehen, weil alles verlassen aussah und keine Tür als Eingang beschildert war. Aber da habe ich drinnen den Fernseher laufen sehen und nach Passieren der einzigen in Frage kommenden Tür drei Leute am Tresen vorgefunden, die Wirtsleute und eine recht schmuddelige Putzfrau, die mir lüsterne Blicke zuwirft. Da wird es wohl Zeit, zu gehen. Ich hatte vorhin schon Begleitung auf dem Weg. Ob’s eine Dame war, weiß ich nicht. Plötzlich tauchte neben mir ein hübscher schwarz-brauner Hund auf, der mich ohne Schlabbern oder Betteln eine ganze Weile begleitet hat. Er lief immer ein Stück vor mir, hat an Gabelungen den richtigen Abzweig genommen und in angemessenem Abstand auf mich gewartet, wenn ich eine Verschnauf- und/oder Fotopause gemacht habe. Nun ist er leider weg, wahr­scheinlich war ich ihm zu langsam. Der Weg wird jetzt wohl bald vom Meer weg ein Stück ins ebenfalls bergige Landesinnere führen. Also noch ein letzter Blick aufs Wasser.

Kurz vor Olatz geht es auf einem sehr naturbelassenen, mal steinigen, mal mit Wurzeln übersäten Weg von 200 auf 350 und wieder runter auf 200 Meter. Rechts vom Weg, der immer wieder durch Tierschutz-Gatter führt, sind steil abfallende Weiden, auf denen vielerlei Getier (Kühe, Schafe, Ziegen, Esel, Pferde) grast. Die Hangabtriebskraft, von der man uns mal im Physikunterricht erzählt hat, scheint es hier nicht zu geben. Da nicht nur die Kühe, sondern auch einige Esel und Pferde eine Glocke umzuhängen haben, ist es mitunter ein ordentliches Gebimmel, wenn man an solchen Weiden vorbeikommt. In Olatz, was eigentlich kein Dorf, sondern die Ansiedlung einer Handvoll Bauernhöfe ist, gibt es immerhin eine Kapelle und gegenüber eine Taverne. Erstere war natürlich zu und ich habe Gleiches auch von der Taverne erwartet. Aber als ich mich durch den Insektenschutzvorhang zur Türklinke vorgearbeitet hatte, ließ sich die Tür öffnen und ich stand in einem kleinen, sehr ordentlichen Gastraum. Die junge, Englisch sprechende Wirtin kam gerade mit einer noch dampfenden Omelette aus der Küche. Da konnte ich nicht widerstehen und hab mir ein Viertel davon geben lassen.

Als ich um 11.11 Uhr aus der Taverne trat, gab die Glocke der gegenüberliegenden Kapelle zweimal 11 Schläge. Das ist sicher ein Programmierfehler, war aber ein guter Auftakt zur Bergetappe. Jetzt ging es nämlich ziemlich stramm auf einen 500 Meter hoch gelegenen Pass - zum Glück überwiegend auf einer gut begehbaren Betonpiste, auf der mir nur ein Auto entgegen kam. Nur das letzte Stück führte wieder über ausgewaschenes Geröll. Oben angekommen ging es, eingerahmt von zwei Weidezäunen, ein paar hundert Meter auf gleichbleibender Höhe voran. Dann zeigte der Weg nach unten, wobei da lt. Wegeprofil noch manche Amplitude zu erwarten war. Am Beginn des Abstiegs saßen die beiden Lemgoer am Straßenrand in der Sonne und haben gegessen. Irgendwo müssen die mich überholt haben.

13.00 Uhr. Jetzt sitze ich an einer überdachten Quelle und widme mich meiner Vorräte. Ich habe Angst, dass das angefangene Päckchen Chorizo-Aufschnitt meinen Rucksack vollsaut. Dazu gibt es einen guten Schluck „Gaseosa“, das ist eine spanische Variante des Margonwassers. Von meinen anderen drei Mitläufern (der Spanier, der junge Franzose und die Koreanerin) habe ich bisher noch niemand getroffen. Der Spanier wollte mich heute früh überreden, von Markina-Xemein zum Kloster mit dem Taxi zu fahren. Aber da es im Vaterunser heißt „Führe mich nicht in Versuchung“ habe ich ihn abgewiesen. Entweder schaffe ich das heute Abend noch zu Fuß oder ich nehme eine Pension.

21.30 Uhr. Der Weg nach Markina-Xemein zog sich noch endlos hin, erst auf 400…500 Meter Höhe und dann steil bergab, zum Glück wieder ein ganzes Stück auf einer Betonpiste. Unten angekommen, fing es an zu regnen, aber während ich die in einem kleinen Laden erworbene Cola unter dessen Vordach getrunken habe, hörte der Regen schon wieder auf. Da es schon weit nach 16 Uhr war und ich ja noch weiter wollte, habe ich mich nicht groß­artig im Ort umgesehen. Mir ist da auch nichts aufgefallen, was man sich hätte anschauen müssen – abgesehen von der „Ermita de San Miguel de Arretxinaga“, einer Kapelle, die um drei riesige, sich gegenseitig stützende Felsbrocken herum gebaut wurde. Ich habe nur noch eine Herberge angesteuert, die in der Karte eingezeichnet ist, aber bisher nirgendwo erwähnt wurde: „Augusto & Daughter“. Die Tochter war jedoch nicht da und Augusto hat mir mürrisch die Auskunft „cerrado“ (geschlossen) gegeben. Geschlossen war auch, wie schon bekannt, die große Pilgerherberge im Zentrum, aber ohne jede Angabe, wann sie wieder zur Verfügung steht. In einem Supermarkt habe ich mir noch was für den Weg geholt. Als ich rauskam, kamen mir Antoine und der junge Franzose aus meinem Zimmer entgegen: Quentin aus Nantes, also auch ein Bretone, wie ich inzwischen weiß. Die haben sich unterwegs gefunden und wollten nach ihrem Einkauf auch zur Kloster-Herberge in Ziortza. Da die aber bestimmt schneller sind als ich, bin ich schon mal vorgelaufen.

Auch dieser Weg war wieder sehr abenteuerlich und ging immer auf und ab. Für die 7,5 km/h habe ich zweieinhalb Stunden gebraucht. Bezeichnenderweise hat der letzte Wegweiser für die verbleibenden 1,1 km 35 Minuten ausgewiesen. In Ziortza gibt es eigentlich außer Kirche und Kloster nichts. Die Kirche stand offen, war aber stockfinster. Kreuzgang und Klosterhof waren frei zugänglich, aber nirgendwo war was von Herberge zu lesen. Erst als ich auf der anderen Seite aus dem Komplex rauskam, fanden sich Schilder, die außen um das Kloster herum führten. Als ich denen folgte, kam mir ein netter Herr mit Zahnlücke entgegen und fragte, ob ich Pilger sei. Daraufhin hat er mich zur Herberge, das heißt, zu einem der beiden Herbergszimmer geführt. Da war es schon nach 19 Uhr, so spät bin ich noch nie in einer Herberge angekommen. Und ich war der einzige Gast. Der Herr hat mir den wahrlich sehr einfachen Raum (4 Doppelstockbetten, ein Einzelbett und eine Küchenzeile mit Kühlschrank gezeigt und gesagt, dass es in dem Raum um 20 Uhr Abendbrot gibt. Ich hatte es mir gerade bequem gemacht, da kam der Herr nochmal, diesmal in Mönchskluft und mit Antoine und Quentin im Schlepptau. Während ich dann zur Komplet (gesungenes Abendgebet) in der Kirche war, kam noch Manuel, der Spanier aus Guardamar dazu, was eine lustige Runde ergab.

Um 20 Uhr kam dann ein anderer der insgesamt 5 Mönche und hat uns einen großen Topf Nudeln mit Tomatensoße gebracht, was sehr köstlich geschmeckt hat. Später erschien nochmal der Mönch, der uns begrüßt hat und brachte alle möglichen Zutaten fürs Frühstück. Und das alles auf Spendenbasis! Ungewöhnlich ist nur der Klogang. Man muss raus auf die Terrasse, dann eine dunkle Treppe runter zur Straße und kommt dort in die Toiletten, die für die Tagesbesucher der Kirche gedacht sind. Ich hoffe, ich muss nicht so oft raus …

Camino del Norte - Tag 4