Unterwegs auf dem Camino del Norte
Von Muros de Nalón nach Santa Marina

Tag 20 (Samstag, 25.3.2023) von Muros de Nalón nach Santa Marina

10.00 Uhr. Ich mache Rast auf einem der vielen heute schon erklommenen Hügel. Man hat hier am Rand von Cudillero neben einer Wasserstelle unter einem dicken, alten (aber noch nicht Schatten spendenden Baum) eine Sitzgruppe aufgestellt, von welcher der Blick in die eine Richtung aufs Meer und in der anderen Richtung auf einen noch höheren Berg fällt. Nun ratet mal, wohin der Weg führt!

Heute früh war für 7 Uhr Frühstück angesagt. Da ich schon viel früher wach war, saß ich pünktlich am Tisch und hatte bereits den ersten Kaffee und ein paar Stullen Vorsprung, als die Schweizer Mädels und die beiden Amerikaner dazu kamen. Wie versprochen gab es nicht nur Süßkram zum Frühstück, sondern auch Salami, Käse und Tomatenmark aus frischen Tomaten, was sich die Spanier gern aufs Brot machen. Nach zwei weiteren Kaffees gab es zum Schluss noch Joghurt und eine Banane. Raphael, der auf den Tag genau zehn Jahre jünger ist als ich, hat das alles im Morgengrauen vorbereitet. Er hat erfreulicherweise auch die ganze Nacht den mit Pellets betriebenen Kaminofen laufen lassen, so dass es mal nicht so kalt war wie in den anderen Herbergen. Den Schweizerinnen hat es hier so gut gefallen, dass sie noch eine weitere Nacht bleiben werden. Bea, die jüngere von Beiden, muss morgen nach Hause. Da wollen sie heute mit leichten Gepäck noch eine Etappe laufen und abends mit dem Bus zurück in die Herberge. Morgen geht es dann mit Bus oder Zug nach Gijon, wo sie Abschied nehmen. Bea fährt dann über Irun/Hendaye in die Schweiz und Teimi (?) mit dem Bus ein Stück in Richtung Santiago. Die letzten 140 km will sie dann wieder laufen.

13.00 Uhr. Ich bin gerade in Soutu de Luiña angekommen, laut Online-Pilgerführer dem Tagesziel der heutigen Etappe. Aber um diese Tageszeit kann man noch nicht Feierabend machen. Ich habe allerdings hier her eine Stunde länger gebraucht, als gedacht, auch weil der Weg zwei Kilometer länger war als ausgewiesen. Aber vor allem haben die vielen Foto­pausen Zeit gekostet. Bei La Magdalena stand ich, aus dem Wald kommend, plötzlich vor einer gewaltigen Autobahnbrücke. Der Weg führte unter der Brücke hindurch in einen etwas verlassenen Ort, der aber mit einem schönen Strand, eingerahmt von Steilküste aufwarten konnte. Damit man die Autobahnbrücke, die sich in großer Höhe in einem eleganten Bogen über das Tal spannt, und die davor schräg nach unten führende Brücke der Landstraße richtig und aus allen Positionen bewundern kann, führte der Weg auf der anderen Seite des Tals wieder bergauf, unter der Brücke hindurch, dann ein Stück entlang der Autobahn und schließlich einen Berg hoch, damit man die tolle Konstruktion auch von oben anschauen kann. Ich kann mich für solche Brücken begeistern und habe deshalb den Aufstieg gern in Kauf genommen. Schlimmer war eh der Abstieg: 150 Höhenmeter runter in einem steinigen Hohlweg. Als Chirurg könnte man in dieser Gegend reich werden.

Unten angekommen erwartete mich Soutu de Lluiña, ein hübscher kleiner Ort, der eine lange Pilgertradition hat und in dem sich nachweislich schon Anfang des 16. Jahrhunderts ein Pilgerhospiz befand. Diese Tatsache und ein paar historische Bauten, die in Zusammenhang mit dem Jakobsweg stehen, haben dem Ort den Status eines Unesco-Weltkulturerbes eingebracht.

15.30 Uhr. Ich sitze in Novellana in einer Bar und nehme eine Stärkung für die letzten fünf Kilometer bis Santa Marina, wo ich Quartier nehmen will. Hier bekommt man drei kleine Schinken-Schnittchen und dazu ein Bier oder umgekehrt. „Estrella Galicia“ wird mir Flügel verleihen, um die nächsten Schluchten zu überwinden.

Kurz hinter Soutu de Lluiña konnte ich zwischen zwei etwa gleich langen Wegvarianten nach Villamouros wählen. Eine entlang der Küste, wo es aber laufend runter und wieder hoch geht, nämlich bei jedem Bach, der sich in Richtung Meer bewegt. Eine andere durchs Hinterland, wo es einmal langsam hoch und dann langsam runter geht. Der Gedanke, diese Variante zu wählen, ist durchaus reizvoll, aber ich habe mich für die Küstenvariante ent­schieden, weil diese vermutlich abwechslungsreicher ist und mehr Orte mit Herbergen berührt. Ich will nämlich auf etwa halber Strecke der 19 km-Tour (das wäre Santa Marina) Quartier nehmen. Das ergäbe für die heutigen anderthalb Etappen gut 25 km und genau so viel für die anderthalb Etappen morgen. Ursprünglich sind hier Etappen von 15,3/18,5/15,3 km vorgesehen, das kann man also sehr leicht auch zu zwei Etappen machen. Vom Streckenprofil und der Wegebeschaffenheit her ist das aber trotzdem anspruchsvoll. Die steinigen und von Wurzeln durchsetzten Wege sind ziemlich nass und rutschig. Den stockfinsteren Tunnel unter der Autobahn muss man sich mit einem kleinen Bach teilen, der die ganze Breite einnimmt, aber zum Glück momentan nur 1…2 cm tief ist. Dann ist auch mal ein Bach auf aneinander gereihten Steinen zu überqueren. Hier ist ein Stock zum Abstützen sehr hilfreich, man muss aber am hiesigen Ufer im Wald ganz schön nach einem geeigneten Ast suchen, während am anderen Ufer viele davon rum liegen. Um meinen Nachfolgern die Suche zu erleichtern, habe ich nach erfolgreicher, d. h. trockener Über­querung ein paar der Stöcker ans andere Ufer geworfen.

17.30 Uhr. Ich bin gerade in Santa Marina angekommen und habe in der Pension „Prada“ Quartier bezogen. Hier gibt es am Pensionsgebäude einen Anbau für Pilger und ähnliches Volk mit vier Doppelzimmern und zwei Bädern. Richtig wie bei Großmuttern mit zwei breiten, mit einer seidigen, aber schon etwas lädierten Plüschdecke bezogenen Betten pro Zimmer. Für Pilger gibt es einen Sonderpreis: 15 € mit Frühstück. Da kann man nicht meckern. Man muss nur damit rechnen, dass noch jemand im Zimmer einquartiert wird. Aber ich glaube nicht, dass jetzt noch einer kommt. Im Nachbarzimmer ist das amerikanische Paar, das mit in der vorigen Herberge war und das ich heute wiederholt getroffen habe. Die anderen beiden Zimmer sind leer. Ein günstiges Tagesmenü gibt es wohl auch, dazu muss man schräg über die Straße in die Gaststätte, die zur Pension gehört. Ich muss da eh rüber, um das Zimmer zu bezahlen, denn die freundliche Mutti hinterm Tresen hat mich nur über die Straße zu meinem Zimmer geführt und ist dann wieder verschwunden. Ich warte aber noch ein bisschen, sonst ist der Abend nach dem Essen noch so lang.

Nach meinem letzten Stopp in Novellana wäre eigentlich der Weg wieder runter in eine Schlucht gegangen - und natürlich wieder hoch. Nach dem nächsten Ort, Castañeras, das Gleiche nochmal. Da habe ich es vorgezogen, auf der Landstraße zu bleiben, die sich um diese Schluchten windet. Als Ausrede mag dienen, dass dunkle Wolken über die Berge zogen und es sehr nach Regen aussah. Da hätte es keinen Spaß gemacht, auf den ohnehin schon glitschigen Wegen runter- bzw. hochzuklettern und dann zusätzliches Wasser führende Bäche zu überwinden. Der Weg auf der Straße war nun allerdings deutlich länger, so dass doch wieder 31 km zusammengekommen sind.

Heute tauchten mal handgemalte Wegweiser mit der Entfernung von Santiago auf. Die Angaben reichten von 250 bis 280 km. Irgendwo dazwischen wird der richtige Weg liegen. Etwa 550 km habe ich also schon hinter mir. Ich zeichne zwar alle Tagestouren mit Komoot auf, aber da dort immer mal Ausrutscher durch falsche GPS-Erkennung vorkommen und ich öfter mal vergesse, gleich beim Losgehen den Tracker einzuschalten, kann man die Tageswerte nicht so einfach addieren. Erst wenn die Tracks am Computer bereinigt und ggf. ergänzt wurden, sind die Werte zu gebrauchen.

Weil ich wie gesagt öfter mal morgens vergesse, den Tracker einzuschalten, habe ich letztens, als ich allein in der 15-Betten-Herberge war, schon abends den Tracker ein­geschaltet und das Smartphone auf den Nachttisch gelegt. Das hatte zwar zur Folge, dass morgens der Akku fast leer war, hat mir aber die Erkenntnis gebracht, dass ich offenbar die ganze Nacht schlafwandelnd durch den Ort gelaufen bin.

Heute Abend hatte ich ja noch ein ganz tolles Erlebnis. Als ich gegen halb sieben in die Gaststätte kam, hielt mir die Mutti hinterm Tresen eine Büchse „San Miguel“ entgegen, an der ein Zettel steckte mit „Bénédicte, I have a beer for you. Antoine“. Der nette Kerl ist doch tatsächlich ein paar Minuten zuvor hier durchgekommen und hat nach mir gefragt. Die Wirtin hätte meinen Namen nicht gewusst, aber die Amerikaner, die schon in der Gaststätte waren und auf das Abendbrot warteten, kannten vom Vorabend meinen Namen. Antoine, der arme Schlucker, hat wirklich immer eine Büchse Bier im Rucksack, die er verschenken kann, wenn er einen Mitpilger trifft. Und das war oft ich. Als wir zusammen auf dem Zeltplatz vor Gijon übernachtet haben, hat er beklagt, dass er am Tag zuvor eine Büchse Bier durch die Berge geschleppt und mich nicht getroffen hat. Ich hoffe, dass er mir morgen über den Weg läuft und ich mich revanchieren kann. Den Amerikanern hat er gesagt, dass er hier in der Nähe zelten will.

Mit den beiden Amerikanern hatte ich dann noch eine interessante Unterhaltung. John (übrigens 72 Jahre alt) aus San Francisco läuft zum zweiten Mal den Camino del Norte. Beim ersten Mal ist er aber auf den Camino Primitivo geschwenkt, weil er die Berge so liebt. Tori, seine Tochter (nicht die vermeintliche Partnerin), deren Name von „Victoria“ abgeleitet ist, mag auch die Berge. Sie lebt in Bishop auf der Rückseite des Yosemite Nationalparks zwischen Viertausendern. Das ist die Gegend, wo ich vor 20 Jahren auf Dienstreisen am Wochenende rumgefahren bin. Sie ist Physiotherapeutin und war im vorigen Jahr schon mal in Europa und zwar als Betreuerin von 3 Amerikanern, die am UMTB, einen 100-Meilen- (160-km-) Lauf rund um den Mont Blanc teilgenommen haben. Das muss ein Mords-Spektakel sein, das ganz Chamonix in Beschlag nimmt und wofür sogar der Mont-Blanc-Tunnel gesperrt wird, weil die Läufer ihn durchqueren. Von „ihren“ Läufern hat der Schnellste non-stop 26 Stunden gebraucht. Sie hat mir tolle Bilder gezeigt. Wieder was gelernt.

Diese Nacht wird die Uhr vorgestellt, da wird es morgen erst nach acht hell sein. Wir wollten mit der Wirtin 7.30 Uhr fürs Frühstück aushandeln, damit wir beim Hellwerden gleich los­laufen können, aber vor acht war bei ihr nichts zu machen. Ist aber auch ok. Das 10-Euro-Menü war übrigens hervorragend. Zum Anfang eine Gemüsesuppe, bei der die Wirtin stolz auf den gegenüber liegenden Garten zeigte, von dem vermutlich die Zutaten stammten. Als Hauptgericht gab es Fisch bzw. Fleisch mit wirklich guten Pommes. Die Beiden hatten Fisch bestellt, ich Fleisch. Als nur zwei Platten kamen, dachte ich, dass die zweite Fischplatte noch kommt, und habe mich auf die riesige Portion Fleisch gestürzt. Als die beiden Platten fast alle waren und ich sah, dass meine viel größer war, als die andere, dämmerte mir, dass die Wirtin da was verdreht hatte. Sie hat zwei Portionen Fleisch und eine Portion Fisch gebracht … Ich habe also für zwei gegessen (die Platte war danach leer!), muss aber kein schlechtes Gewissen haben, da die zwei zusammen ihre Fischplatte gar nicht geschafft haben. Beim Nachtisch hat die Dame auch was verdreht und zweimal Pudding und ein Eis gebracht, obwohl das andersrum sein sollte. Der Pudding, den ich statt Eis bekommen habe, war lecker, aber auf die Dauer zu süß. Ich hatte aber das Glück, dass Tori von ihrem Eis kaum was geschafft und mir den Rest zugeschoben hat. Die Flasche Rotwein haben wir gerecht gedrittelt. Tori hat einen Schluck bekommen und ich habe mir den Rest mit John geteilt.

Da ich die Hälfte der Zeit mit Antoines Bier in der Gaststätte gesessen habe (was die Wirtin nicht verärgert, sondern sichtlich amüsiert hat), habe ich ihr noch eine Flasche „Estrella Galicia“ ab- und mitgenommen, damit ich diese Zeilen nicht mit trockener Zunge schreiben muss. Ich muss aber vorm Schlafengehen noch meine Hose waschen, weil ich gestern beim Abendbrot gekleckert habe und der Fleck so ungünstig platziert ist, dass mir keiner glaubt, dass der vom Spagetti-Essen herrührt.

Camino del Norte - Tag 20