Unterwegs rings um Santiago de Compostela
Von Sigüeiro nach Santiago de Compostela

Tag 38 (Mittwoch, 12.4.2023) von Sigüeiro nach Santiago de Compostela

Ich habe die letzte Nacht grandios und lange geschlafen. Morgens kein klingelnder Wecker, kein Rumgewusel, kein Packen und Aufbrechen vor dem Hellwerden. Als ich aufwachte, konnte ich mich getrost noch mal umdrehen und eine Schippe Schlaf nachlegen. Nach der Morgentoilette habe ich mir mit den Resten vom Vorabend ein opulentes Mahl bereitet, wieder Rühreier mit Schinken, Chorizo und Zwiebel. Dazu Kaffee mit Milch. Eine Zwiebel hätte ich mir übrigens nicht extra kaufen müssen, denn da lagen noch ein großes Stück und eine unberührtes Riesenexemplar im Kühlschrank. Der Kühlschrank war eh recht gut mit Resten gefüllt, erfreulicherweise auch mit Margarine, obwohl mir Butter lieber gewesen wäre. Es ist immer schade, wenn man ein großes Stück kaufen muss und den größten Teil zurück lässt. In manchen Herbergen darf man gar keine Reste zurücklassen, da müsste man die übrig gebliebene Margarine oder Butter wegschmeißen. Im Kühlschrank befand sich auch eine halbe Stiege Bier, „Ramblers‘s Classic Lager“. Da außer mir keiner da war, kann das nur jemand vergessen oder absichtlich hinterlassen haben, um einem durstigen Neuankömmling eine Freude zu bereiten. Nach dem ersten Schluck habe ich das „eine Freude bereiten“ aber wieder zurück genommen.

Der Weg war heute nicht spektakulär, aber größtenteils schön. Beim letzten Mal bin ich morgens sehr zeitig in Sigüeiro aufgebrochen, weil ich vormittags in Santiago sein wollte, um mir noch meine Compostela zu holen, bevor am frühen Nachmittag der Bus zum Flughafen ging. Weil es da bis kurz vor Santiago noch dunkel war, bin ich seinerzeit die ganze Strecke entlang der morgens stark befahrenen Nationalstraße gelaufen, was zwar auf den Seiten­streifen ganz gut ging, aber der Scheinwerfer und des Kraches wegen ziemlich nervig war. Heute hatte ich jede Menge Zeit, obwohl es längst neun war, als ich los bin. Ich konnte also den ausgeschilderten Weg nehmen, der wie gesagt ganz angenehm war und sogar zwei oder drei Bars zu bieten hatte, wo man Kaffee und was zu essen bekam.

Kurz vor Santiago führte der Weg durch ein recht ordentliches Gewerbegebiet, was besser zu laufen war, als seinerzeit der Weg kreuz und quer unter dem Autobahnkreuz hindurch. In der Stadt angekommen ging es an den Gebäuden der Galicischen Regierung und einer ausnahmsweise offenen Kirche vorbei. Dort saß aber auch ein alter Herr, der in Erwartung einer kleinen Spende Stempel in den Pilgerpass verabreicht hat. Außerdem fand sich dort eine „Cafeteria o Parlamento“, wo es aus dem Zapfhahn das baskische „Keler“-Bier gab, das ich schon ganz zum Anfang meiner Reise kennengelernt habe. So schließt sich der getränkemäßige Kreis.

Apropos Kreis: Auf dem Kreisverkehr davor schaute aus den Grünpflanzen ein bronzener Pilger hervor, der in Erwartung des nahen Ziels die Arme weit auseinander reißt. Die Figur hat mir sehr gefallen, da sie doch die freudige Erwartung darstellt, mit der man zumindest beim ersten Mal auf die Kathedrale zuläuft, um dort seinen Freudentränen freien Lauf zu lassen. Beim wiederholten Male schlagen die Emotionen nicht mehr so stark durch und wenn man wie ich jetzt von einer als Lückenfüller gedachten 3-Tage-Tour zurückkommt erst gar nicht. Ich weiß echt nicht, was angebrachter ist: gleich nach dem glückseligen Gefühl, einen langen Weg geschafft zu haben, in den Flieger zu steigen, oder erstmal wieder auf den Boden zu kommen. Ich hatte dieses Mal wie bei den voran gegangenen Pilgerfahrten dank Fehlplanung immer noch die Gelegenheit, auf einem kurzen Camino „abzutrainieren“, was physisch, aber auch psychisch gemeint ist. Ich hatte heute, zumal es im Regen losging, wirklich die Nase voll. Die Beine wollten nicht mehr so richtig und der Rucksack drückte. „Noch x Kilometer, dann ist es vorbei“ ging mir immer wieder durch den Kopf, „und dann kannst Du in den Flieger steigen und endlich wieder nach Hause“. Ich glaube, das ist ein leichterer und besserer Abschied, als der, den vermutlich Thomas hatte, der vor der Kathedrale sagte „Und das war es? Jetzt geht es nicht mehr weiter?“ Was komischerweise bei beiden Abschiedsvarianten bleibt, ist der unbedingte Wille, so bald als möglich wieder einen Camino zu gehen.

So, nun bin ich ja eigentlich schon am Ende angekommen. Es bleibt nur noch zu erzählen, dass ich auch heute nach einer kurzen Runde über den Platz vor der Kathedrale ins Pilgerbüro bin, wohlwissend, dass es für die 72 km von A Coruña nach Santiago keine „Compostela“ gibt, weil man dafür mindestens 100 km zurücklegen muss. Aber man kann es ja mal probieren, denn was kann ich dafür, dass dieser Camino so kurz ist. Die Dame am Tresen hat mir in einem Englisch, das so schlecht wie meins ist, genau das erklärt. Aber mein verwunderter und trauriger Blick hat sie bewogen, eine Art „Ersatz-Compostela“ aus dem Schrank zu holen und mir auszufertigen. Die sieht fast genauso wie das Original aus, und dass der lateinische Text ein anderer ist, fällt keinem auf. Bei nicht hinreichend Einge­weihten kann man also auch mit einer solchen, in drei Tagen erworbenen Urkunde angeben.

Danach bin ich in meine Herberge mit dem passenden Namen „The Last Stamp“, die nur drei Minuten von der Kathedrale und ebenso weit von der Bushaltestelle entfernt ist. Die Räume machen einen engen Eindruck, was aber daran liegt, dass man die fünf Doppelstockbetten, die jeweils Steckdosen und Licht sowie daneben riesige Schließfächer mit Zahlenschloss haben, durch Schiebetüren voneinander abtrennen kann. Das ergibt jeweils Zweibettzimmer, nur halt übereinander. Der Blick aus dem Fenster ist grandios, denn der fällt auf einen Kathedralen­turm.

Nach dem Einchecken bin ich zu dem etwas versteckt liegenden Supermarkt „Froiz“ und habe mir dort Zutaten für das Abendbrot besorgt: wie schon oft eine Salatschüssel mit den noch rein zu rührenden Komponenten (Käse, Fleisch, Croûtons). Außerdem wieder einge­legte Paprika und Oliven, die man dazugeben kann, um der Sache etwas Farbe und Ge­schmack zu geben. Groß und stark wird man davon nicht, aber gesund ist es ganz bestimmt. Ich sitze damit in der recht urigen Küche der Herberge, mit riesigen Steinen als Fußboden und einer alten Balkendecke. An den Tischen verteilt sitzen nur noch drei andere, die ihre Smartphones konsultieren. Ich muss meins übrigens zuhause mal überprüfen lassen, weil es mich schon seit Tagen nicht mehr erkennt und immer den Code eingegeben haben will.

Nun geht also auch diese Pilgerfahrt zu Ende, die diesen Namen zwar nicht verdient, aber eine sehr schöne Wanderung war - mit netten Bekanntschaften und unzähligen Eindrücken und Erlebnissen. Dazu zählen die vielen Prozessionen in der Osterwoche, die so nicht einge­plant waren. Aus Pietätsgründen verbietet sich zwar der Vergleich, aber die Prozessionen waren den Rosenmontagsumzügen sehr ähnlich. Als Unterscheidungs­merkmal hatte ich ausgemacht, dass hier keine Kamellen geworfen werden, aber als ein junger Kapuzenmann an die Umstehenden Bonbons verteilte, schwand auch dieser Unterschied dahin. Aber schön anzusehen war es. Dieses Osterprogramm, die Ausflüge nach Fisterra und Ribeira und zuletzt der Camino Inglés waren eine sehr schöne Ergänzung zu den Erlebnissen auf dem Camino del Norte. Nun freue ich mich riesig auf Zuhause.

Morgen geht es über Madrid (weil der Direktflug gestrichen wurde) nach Paris, wo ein Besuch bei den Enkeltöchtern ansteht, und am Freitag weiter nach Berlin. Weil dabei hoffent­lich nichts Berichtenswertes passiert, werde ich hiermit meine abendliche Bericht­erstattung einstellen. Ich danke allen, die so lange mit Lesen ausgehalten haben und hoffe, dass es nicht zu langweilig war. Bis zum nächsten Camino!

Rings um Santiago de Compostela - Tag 38