Unterwegs auf dem
  • Abschnitt Hof-Nürnberg
des Jakobsweges entlang der alten Reichsstraße, Via Imperii, die von Stettin über Berlin, Leipzig, Hof und Nürnberg nach Rom führt.
Dies ist eine weitestgehend unveränderte Zusammen­stellung der im September '23 täglich per WhatsApp an Freunde und Verwandte verschickten Tagesberichte.
Die oben stehenden Links führen zu (später mal) bebilderten Beschreibungen der einzelnen Etappen. Der dortige Text entspricht dem Text auf dieser Seite.

© 2023, Benedikt Eckelt

Leipzig-Hof


Tag 1 (Mittwoch, 20.9.2023) Anreise nach Hof und Hof-Helmbrechts / 20,7 km

Liebe Freunde und Verwandte, es hat sich schon rumgesprochen, dass ich nochmal für ein paar Tage auf Wanderschaft gehe. Ich will da fortsetzen, wo ich vor zwei Wochen aufgehört habe: in Hof. Von dort will ich weiter auf der Via Imperii gen Süden laufen, das Ziel ist Nürnberg. Da ist dann wirklich erstmal Schluss, bis sich vielleicht irgendwann Zeit und Gelegenheit ergeben, weiter in Richtung Italien zu laufen. Wie gehabt will ich Euch wieder tagsüber und/oder am Abend mit WhatsApp-Nachrichten auf dem Laufenden halten, was zugleich mein Reisetagebuch ist, denn sicher wird es auch auf diesem Weg wieder so viel zu sehen und zu erleben geben, dass ich mir das nicht alles bis nach der Tour merken kann.

7.45 Uhr. Ich sitze in der S-Bahn, die mich zum Ostbahnhof bringt, wo ich in den RE 7 umsteige. Das ginge auch in Ostkreuz, aber es ist noch Zeit und am Ostbahnhof ist die Chance größer, noch einen Platz zu bekommen. Ich habe keine Vorstellung, wie voll der Zug ist. Laut DB-Auskunft ist er zumindest pünktlich.

8.00 Uhr. Der RE 7 nach Senftenberg, der mich nach Calau bringt, war pünktlich 7.56 Uhr am Ostbahnhof und ich habe problemlos einen Platz gefunden. In Calau (an 9.14) habe ich dann fünf Minuten Zeit, um in den RE 10 nach Leipzig umzusteigen. In Leipzig (an 10.50) sind dann nur vier Minuten Zeit, um die RB 13 nach Hof zu bekommen. Die Umsteige­zeiten sind an sich schon sportlich, nun zeigt die DB-Seite aber für die ersten beiden Züge bereits ein bzw. drei Minuten Verspätung am Ziel an, jeweils trotz pünktlicher Abfahrt. Die Hinfahrt, bei der ich mit dem Deutschland-Ticket wieder auf Regionalbahnen angewiesen bin, erweist sich also mal wieder als spannend. Das war aber eigentlich nicht anders zu erwarten. Es wäre allerdings sehr ärgerlich, wenn ich wesentlich später als geplant um 13.26 Uhr in Hof wäre, denn ich will dann noch die erste Etappe (ca. 21 km) nach Helmbrechts laufen, wo ich mein Kommen für 19 Uhr angekündigt habe. Bald danach wird dann ja auch schon dunkel.

Lt. Pilgerführer beträgt die Strecke Hof-Nürnberg 184 km, wofür neun Tage veranschlagt sind. Ich habe die Etappen so gelegt, dass ich mit einem Tag weniger auskomme und (theoretisch) die erste und letzte Etappe zusammen mit der An- bzw. Abreise schaffe.

8.20 Uhr. Das für heute Geplante wird sich vermutlich schwer umsetzen lassen, da der Zug wegen Stau auf der Strecke bereits eine Weile rumsteht. Es ist bei jeder Fahrt das Gleiche: die Züge fahren zwar in kurzem Abstand, haben dann aber im Berliner Umland Verspätung, weil zu viel Verkehr ist. Ich weiß nicht, wieviel Puffer man bei jedem Umsteigen einplanen muss, um seine Verbindungen zu schaffen. Trauerspiel Bahn!

Wie hier in Deutschland leider notwendig, habe ich mir vorab Quartiere für alle Etappen reserviert. Hier kann man nicht so spontan eine Herberge ansteuern wie in Spanien oder Portugal. Solche Herbergen findet man hier eh kaum, stattdessen ist man auf Unterkünfte in Kirchengemeinden, Jugendheimen usw. angewiesen, wenn man Pensionen und Hotels umgehen will. Da muss man schon ein paar Tage vorher anrufen oder Emails schicken, da die Ansprechpartner, meist sind es die Pfarrsekretärinnen, oft nur schwer erreichbar sind. Aber ich habe es diesmal ziemlich schnell geschafft, für alle Etappen Unterkünfte zu finden: heute Abend in der Pilgerwohnung der evangelischen Kirchengemeinde Helmbrechts, morgen im Pilgerquartier des Klosters Marienweiher, am Freitag bei der evangelischen Kirchengemeinde in Bayreuth (wo mir sogar Frühstück versprochen wurde), am Sonnabend im Pfarrhaus von Lindenhart, wo mir die junge Pfarrersfamilie Abendbrot und Frühstück in Aussicht gestellt hat, dann in Stierberg bei Betzenstein im Landgasthof Fischer, wo es ein richtiges 12-Betten-Pilgerquartier gibt, am Montag im katholischen Pfarrhaus von Weißenohe und am Dienstag in einem zur Ferienunterkunft ausgebauten Bauwagen in Kalchreuth. Von dort geht es dann am Mittwoch nach Nürnberg (ca. 17 km) und mit dem Zug nach Hause.

Morgen und übermorgen ist ein bisschen Regen angesagt, ansonsten soll das Wetter schön sein. Temperaturen um 20 Grad - das ist zum Wandern perfekt. Ich hoffe nur, dass es nachts nicht so kalt ist, da nicht abzusehen ist, ob alle oben genannten Quartiere beheizt sind. Ich habe schon mal im März auf einer Couch im Pfarrbüro mächtig gefroren, weil da zum Büroschluss nachmittags um vier oder fünf die Heizung abgeschaltet hat.

9.00 Uhr. Aus dem „verspäteten vorausfahrenden Zug“ ist jetzt ein „defektes Stellwerk“ geworden. Die Verspätung beträgt nunmehr zehn Minuten und die DB-Webseite gibt ihr Bedauern kund, dass ich den Anschluss vermutlich nicht schaffen werde.

9.30 Uhr. Auf die Bahn ist doch Verlass! Mein Zug kam zwar zehn Minuten zu spät in Calau an, aber der Zug nach Leipzig hatte auch acht Minuten Verspätung, so dass ich sogar noch drei Minuten auf dem plötzlich vollen Bahnsteig warten musste. Ich bin nämlich längst nicht der Einzige, der diese Streckenführung von Berlin nach Leipzig gewählt hat. Vermutlich waren alle hier Umsteigenden mit einem 49-Euro-Ticket (Deutschland-Card) unterwegs. Nun kann ich nur hoffen, dass es auch in Leipzig mit der Verspätung des Anschlusszuges klappt.

Zu meinen Quartieren wäre noch eine Kuriosität nachzutragen: Vor ein paar Tagen habe ich im Internet auf einer Karte mit den Standorten aller deutschen Pilgervereine veraltete Angaben zum Berliner Pilgerverein entdeckt und der vermeintlichen Webmasterin die aktuellen Angaben geschickt. Diese Email ist beim Fränkischen Pilgerverein auf dem „Schreibtisch“ des Pfarrers im Ruhestand Michael Thein gelandet, der einst die Karte erstellt und nun anhand meiner Angaben aktualisiert hat. Er fragte nochmal zurück, ob die gemachten Änderungen korrekt sind, und ich konnte ihm anbieten, das am Sonnabend beim Frühstück zu besprechen. Er ist nämlich in Bayreuth der Pilgerbeauftragte, der für mich das Pilgerzimmer reserviert und mich zum Frühstück eingeladen hat. Mein Name ist also doch nicht so ausgefallen, dass man gleich stutzig werden muss.

11.00 Uhr. Bei Ausflügen wie diesen muss man immer mit der Sturheit der Sachsen rechnen. Unser Zug hatte seine Verspätung auf vier Minuten reduziert - Ankunft 10.54 Uhr in Leipzig. Das ist genau die Abfahrtzeit des RB 13. Ich hatte schon herausgefunden, dass dieser von der anderen Seite des Bahnsteiges fährt, so dass ich mich nicht an die Zugspitze vorarbeiten muss, um zu diesem Zug zu gelangen. Ich brauchte nur einen guten Platz an der Tür. Den hatte ich auch, aber genau in dem Moment, in dem unser Zug einfuhr, fuhr der Zug auf dem Nachbargleis raus. Toll. Wenn die Bahn schon mal pünktlich sein will, dann ohne Rücksicht auf Verluste. Derer gab es einige, denn viele schauten wie ich ungläubig dem ausfahrenden Zug hinterher und sitzen jetzt mit mir im Zug nach Chemnitz (ab 11.22 Uhr), um von dort nach Hof zu kommen. So ist man nur eine Stunde später als geplant in Hof (14.32 Uhr), mit dem nächsten direkten Zug wären es zwei Stunden.

Der RE 6 nach Chemnitz ist ein ziemlich in die Jahre gekommener Dieseltriebwagen, in dem man vergeblich nach einer Steckdose sucht. Hier wird der ganze Strom für das dusslige Gepiepe beim Schließen der Türen gebraucht. Da die Tür nach jedem Einsteigenden auto­matisch schließt, wird das Gebimmel wohl erst aufhören, wenn der Zug abfährt. Dann bleibt nur noch das Gedröhne des Dieselmotors.

11.25 Uhr. Der Zug ist pünktlich abgefahren und hat es immerhin schon bis aufs Bahnhofs-Vorfeld geschafft, wo er nun in der Sonne rumsteht. Theoretisch sind in Chemnitz 27 Minuten Umsteigezeit. Mal sehen, wieviel davon bleibt. Kaum hatte das Gebimmel der Türen aufgehört, ging eine krächzende Lautsprecherdurchsage los. Was die Dame gesagt hat, war nicht zu verstehen. Das klang wie eine Ansage im Flugzeug - kurz nach dem Absturz.

11.30 Uhr. Nun rollt der Zug. Wenn der Sprit reicht, stehen die Chancen gut, dass er es bis Chemnitz schafft.

12.00 Uhr. Zur Abschreckung für alle, die nur zum Pinkeln mit der Eisenbahn fahren, war hier im Zug nach Chemnitz die einzige Toilette zu. Ein nebenstehender Schrank mit Rollladen, hinter dem sich vermutlich ein Fahrkartenautomat befindet, ist mit Klebeband verschlossen. Als die Schaffnerin durchkam und ganz penibel bei Deutschland-Card-Inhabern nach dem Ausweis gefragt hat, habe ich sie gebeten, mir doch die Öffnungszeiten der Toilette mitzuteilen, während ich im Rucksack nach meinem Ausweis suche. Feste Öffnungszeiten gibt es zwar nicht, aber „Pinkeln on demand“ ist möglich. Das heißt, wenn man Bedarf anmeldet, wird einem aufgeschlossen. Da soll mal einer sagen, die Bahn (in diesem Fall die Mitteldeutsche Regiobahn MRB) hat keinen Service zu bieten. Erleichtert genieße ich jetzt die Fahrt durch Sachsen.

Apropos „Erleichtert“. Gar nicht erleichtert hat sich mein Rucksack. Im Gegenteil, der ist (ohne Proviant) mit 6,3 kg fast ein Pfund schwerer als bei der letzten Tour. Ich weiß nicht warum, und beim wiederholten Durchwühlen habe ich nichts gefunden, was jemand heimlich in meinen Rucksack getan haben könnte. Als einzige gewichtige Unterschiede fallen mir nur der größere Akku, zusätzlich je ein T-Shirt und ein Schlüppi sowie die letztens vergessene Jakobsmuschel ein. Aber das macht zusammen vielleicht 200 Gramm aus. Seltsam. Warum so schwer? Gewaschen ist alles.

13.30 Uhr. Der Zug war pünktlich in Chemnitz und der Anschlusszug fuhr zur rechten Zeit. So sollte es sein. Schade, dass man solche Ausnahmefälle extra erwähnen an muss. Die Landschaft, die hier an den Fenstern vorbeigeschoben wird, ist ganz nett. Die Berge, die ja eher was fürs Auge als für die Beine sind, werden zwar häufiger, sind aber erklimmbar, wie ich vor zwei Wochen festgestellt habe. Zwickau und Reichenbach, wo wir gerade durch­gekommen sind, lagen doch auf meinem Weg von Leipzig nach Hof.

Jetzt müsste gleich die Göltzschtalbrücke, die mit den 26 Millionen Ziegeln, kommen.

Ja, das war sie. Da es dort mit ungeminderter Geschwindigkeit rüber geht, nimmt man die gar nicht wahr, wenn man nicht aus dem Fenster schaut und sich über das weite, tiefe Tal auf beiden Seiten wundert. Ich habe sogar die Stelle im Tal erkannt, bis zu der ich laufen musste, um die Brücke halbwegs komplett vor die Linse zu bekommen.

Als Nächstes kommt jetzt hinter Jocketa die total eingerüstete Elstertalbrücke. Der Zug bremst schon ab, weil er hier nicht mit voller Geschwindigkeit rüber darf. Die Strecke ist momentan eingleisig und nebenan wird gearbeitet. Auch hier wieder ein fantastischer Blick in ein weites Tal, diesmal mit der Weißen Elster mittendrin.

14.00 Uhr. Jetzt ist Halt in Plauen. Noch eine halbe Stunde, dann bin ich in Hof. Ich muss nachher einen ordentlichen Schritt vorlegen, um noch im Hellen in Helmbrechts anzu­kommen. Ich melde mich deshalb erst wieder heute Abend.

21.00 Uhr. Ich bin vor einer guten Stunde in Helmbrechts in meinem Quartier angekommen. Ob „gut“ kann ich erst morgen sagen, da mir ein Fuß Probleme bereitet. Es ist das rechte Sprunggelenk, dass ich mir vor knapp dreißig Jahren bei einem Kellersturz lädiert habe und mit dem ich seitdem das Wetter vorhersagen kann. Da mir wegen dem in Leipzig verpassten Anschluss eine Stunde fehlte, bin ich ab Bahnhof Hof recht zügig gelaufen und war am Stadtrand ganz stolz, dass ich weit über 5 km/h geschafft habe. Da habe ich aber auch gemerkt, dass ich dabei den angeschlagenen Fuß etwas überanstrengt habe. Der tat plötzlich beim Auftreten weh. Vielleicht wollte das Sprunggelenk gerade die Wetterprognose für morgen durchgeben, als ich mal etwas kräftig aufgetreten bin. Ich weiß nicht. Vermutlich sollte man sich auch in Eile nicht dazu verleiten lassen, die Gangart zu ändern.

Auf jeden Fall war das Laufen ab da eine ziemliche Tortur. Aber Zeit für lange Pausen und langsamere Schrittfolge war nicht drin. Letztlich habe ich lt. Komoot die 21,7 km in knapp viereinhalb Stunden geschafft und war inklusive Einkaufen kurz vor halb acht hier. Den Hausmeister hatte ich informiert, dass es später als 19 Uhr wird. Der sagte, dass dies nichts macht, da ja um sieben eine Friedensandacht ist und der Pfarrer mir danach aufschließen kann. Das hat er dann auch gemacht und mir die Pilgerwohnung im Dachgeschoss des Pfarrhauses gezeigt. Da gibt es zwei recht ordentliche 2-Bett-Zimmer, eins davon mit einer gemütlichen Sitzecke und einem bemalten Holzschrank von 1742. Das habe ich gewählt - ich bin ja allein und habe freie Wahl. Ich habe aber in der Meldeliste gesehen, dass in den letzten Tagen immer mal jemand hier war, gestern sogar zwei Pilgerinnen.

Ich habe mir gerade den im Netto erworbenen Salatmix wie in Spanien mit Paprikastreifen aufgewertet und halbwegs hungrig verschlungen. Ich hatte zwar in Chemnitz auf dem Bahn­hof einen ganz brauchbaren 5-Euro-Döner gegessen, aber der wäre bei uns als Kinderdöner durchgegangen.

Wenn ich mit dieser Nachricht fertig bin, werde ich mir im Bad die Wanne voll machen und dort Fuß und Körper erquicken. Der Pfarrer hat sich entschuldigt, dass zur Wohnung nur eine Toilette mit Waschbecken gehört und in dem Bad der leeren Wohnung gegenüber nur eine Badewanne mit Handdusche ist. Der weiß ja gar nicht, welche Freude er mir damit macht. Eine Küche gehört hier leider nicht zur Wohnung, aber der Pfarrer hat mir die zum Pfarrsaal gehörige Küche gezeigt, wo ich mir morgen früh einen Kaffee kochen kann. Da hätte ich mir sicher auch eine Tütensuppe machen können, aber jetzt bin ich satt und ich will deswegen auch nicht extra zwei Treppen runter und wieder hoch steigen.

Ich hoffe, Bad und Schlaf beruhigen den Fuß wieder, sonst muss ich morgen als erstes in die Apotheke am Markt und mir da Voltaren holen - ausgerechnet dieses Mal habe ich das nicht dabei.


Tag 2 (Donnerstag, 21.9.2023), Helmbrechts-Marienweiher / 13,4 km

17.45 Uhr. Ich bin gut in Marienweiher hinter Klostermauern angekommen und werde gleich in die Bioszene einsteigen und mir einen Vortrag über die Haltbarmachung von Lebens­mitteln anhören. Der findet eine Etage unter mir in einem Versammlungsraum statt. Bis der Vortrag vorbei ist und die Leute verschwunden sind, kann ich eh nicht schlafen gehen.

Ich habe hier einen ziemlich schlichten Raum mit zwei Campingliegen für mich. Nebenan ist die Toilette und eine Etage tiefer eine kleine Küche. Da habe ich gerade die erste Hälfte meines aus dem Netto in Marktleugast herangeschleppten Abendbrotes eingenommen.

Die Klostermauern sind nur symbolisch zu betrachten. Das Ensemble, das den Wallfahrtsort Marienweiher bildet, liegt in der Mitte des gleichnamigen Ortes auf einem kleinen Hügel. Im Zentrum steht die „päpstliche Basilika“, eine recht opulent ausgestattete Barockkirche, daneben ein Gebäude, das durch eine Brücke mit der Basilika verbunden ist, und in dem zwei Franziskanermönche leben. Außerdem dann das ehemalige Kantorenhaus, in dem sich u.a. die Pilgerherberge befindet. Davon ist nichts eingemauert …

22.30 Uhr. Der Vortrag und ein erster Schlaf liegen hinter mir. Bei dem Vortrag, der von über dreißig Teilnehmern, darunter vier Männern, besucht war, ging es um das Fermentieren, das heißt im weitesten Sinne darum, wie man aus allem möglichen Obst und Gemüse Sauerkraut machen kann. Die Referentin, eine Heilpraktikerin (was meinen Zynismus anstachelt) wusste bei jedem der in Briefmarkengröße an die Wand geworfenen Bilder von Einweckgläsern zu berichten, dass der Inhalt „super lecker“ schmeckt und dass sie und ihr Mann sich den eingelegten Grünkram morgens aufs Brot legen. „Ich und mein Mann“ zogen sich durch den Abend, aber man erfuhr auch von Uneinigkeit in der Ehe: ihm hat Rote Beete schon immer geschmeckt, ihr erst, seit sie diese selbst fermentiert. Nach fast anderthalb Stunden war sie längst noch nicht bei der angekündigten Verkostung angelangt, sondern hat nochmal einen Exkurs in die Bedeutung der Darmflora gemacht und man erfuhr zum Beispiel, dass nach angestellten Studien eine schlechte Darmflora Autismus hervorrufen kann. Zu den gezeigten Grafiken sagte sie selbst, dass es nicht so schlimm ist, wenn man die nicht erkennen kann.

Ich habe ja bis dahin tapfer durchgehalten, aber da ich laufend eingenickt bin und Angst hatte, vor vollem Publikum vom Stuhl zu fallen, habe ich mich davon gemacht und zu einem (drei Stunden währenden) Nickerchen hingelegt. Eigentlich wollte ich die Dame noch nach der Klimabilanz ihrer Sauerkrautgläser fragen, denn sie hat uns erklärt, wie wichtig die Kohlendioxidblase ist, die beim Fermentieren, also beim gezielten Vergammeln, unter dem Deckel im Glas entsteht. Kurz gesagt, bei jedem Öffnen eines solchen Glases passiert das Gleiche wie beim Rülpsen einer Kuh auf der Weide - klimaschädlichen Gase werden freigesetzt. Aber mit einer solchen Frage wäre ich hier mitten im Wahlkampf als grüner Spinner angeeckt. Herr Aiwanger verkündet hier von Plakaten mit Windrädern zwischen Fachwerkhäusern, dass Grüne keine Heimat kennen.

Apropos Wahlkampf: kennt jemand Oswald Greim? Der kandidiert als Bundestags­abgeordneter der Linken. Den habe ich schon im Wald hängen sehen, natürlich nur auf einem Plakat, auf dem er einen Waldarbeiter gibt. Eine halbe Stunde später steht er leib­haftig vor mir. In Marktleugast treffe ich auf einen Schaukasten der Linken mit deren Kandidaten, außerdem aber mit Jakobsmuschel und einer kurzen Geschichte der Marien­weiher Wallfahrt. Prima, im Schaukasten der CSU waren nur Biertischbilder. Das Grundstück nebenan war dann aber für meinen Geschmack etwas zu dicht mit Wahlplakaten der Linken behangen. Aber als sich der Herr erhob, der da gerade versuchte, eine Kettensäge oder sowas in Gang zu setzen, stellte ich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Oswald Greim auf den Plakaten fest. Wir haben kurz geplauscht und bereitwillig hat er für ein Foto posiert. Leider habe ich in meiner Aufregung vergessen zu fragen, warum er Jakobsweg-Reklame macht. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass der auch schon mal ein Stück gelaufen ist.

23.30 Uhr. Als alter Mensch darf man natürlich einen Tagesbericht nicht beenden, ohne auf die gesundheitlichen Probleme eingegangen zu sein. Nehmen wir doch mal meinen Fuß. Der ist nicht blau, dick oder verrenkt und er hat die ganze letzte Nacht nicht wehgetan. Aber es tut weh, wenn man mit dem Hacken auftritt, was sich bei einer Wanderung nicht ganz vermeiden lässt. Ich bin also heute früh losgezogen, als hätte ich rechts keinen Wander­schuh, sondern einen Stiletto an. Das sah nicht nur doof aus, sondern war auch ungemein anstrengend. Bei verschiedenen Pflegediensten und Physiotherapien am Wegesrand habe ich angefragt, ob nicht einer ihrer Klienten eine Krücke hat stehen lassen. Damit wäre es be­stimmt gut gegangen. Aber hier sind die Leute offenbar nur in politischen Fragen vergesslich.

Hinter Helmbrechts, wo ich trotz durchgängigen Viertelstunden-Geläuts der unmittelbar neben meiner Schlafstätte stehenden Kirche sehr gut geschlafen habe, fand ich einen als Pilgerstab tauglichen Knüppel und mit dem ging es ganz gut. Das Gehumpel mit dem Stock sah zwar sicher bekloppt aus, aber im Wald hat das niemand gestört. Es war übrigens mal eine ganz neue Erfahrung, wie es sich für einen gebrechlichen Menschen anfühlen muss, sich trotz oder gerade wegen einer Behinderung auf den Weg zu begeben. Bisher hatte ich nur an Pässen auf dem Camino Francés das Gefühl und die Angst, nicht weiterzukommen. Das war dann vorbei, wenn man oben angekommen war. Aber wie es sich anfühlt, schon morgens mit Schmerzen auf den Weg zu gehen, war neu. Im Gegensatz zu Menschen mit dauerhaften Beschwerden konnte ich im Laufe des Tages dankbar feststellen, dass es nicht nur mit dem Humpeln ganz gut geht, sondern dass es mit dem Fuß schon etwas besser oder zumindest nicht schlechter geworden ist, was ja auch hätte sein können.

Das war heute aber zum Glück auch nur eine Ruhetagetappe von vielleicht 15 Kilometern und ich konnte mir viel Zeit nehmen und lange Pausen einlegen.

Hinter Helmbrechts führte der Weg quasi durch ein Gehöft auf eine große Wiese und hinter dieser in einen dichten, lückenlos mit Moos bedeckten Nadelwald. Hinter diesem ging es kurz auf eine Landstraße und dann wäre es eigentlich rechts ab wieder in den Wald und um die Dörfer Wüstenselbitz, Burkersreuth und Dreschersreuth herum nach Hohenberg gegangen. Ich habe es aber vorgezogen, den Weg durch diese Dörfer zu wählen, schon weil der Stock auf dem Asphalt so schön klappert.

Ein paar der Kirchen in den Dörfern habe ich offen gefunden, zum Beispiel die Lutherkirche in Wüstenselbitz (mit Stempel!) und die halbwegs moderne in Hohenberg. Besonders sehenswert war die in Marktleugast, also kurz vorm Ziel, auf einem Hügel (direkt gegenüber dem Grundstück des Linken-Kandidaten) gelegene katholische St. Bartholomäus-Kirche, für die ich zwar einige Treppen hochsteigen musste, aber mit einem kleinen Barockwunder belohnt wurde. Ganz toll ist natürlich hier in Marienweiher die Basilika, die sehr reich ausgestattet, aber noch nicht überladen ist. Hier habe ich übrigens erstmals wieder eine Statue des Heiligen Rochus gefunden, den ich so verehre, da der sich seinerzeit um die gestrandeten Pilger gekümmert hat.

Ich bin aber heute auch auf Unterstützung gestoßen. In Burkersreuth war doch tatsächlich zur Mittagszeit die Gaststätte geöffnet. Drinnen saß die Wirtin mit zwei ebenfalls älteren Damen beim Frühstück, was sie aber nicht hinderte, mir ein halbwegs kühles (Flaschen-) Bier aus irgendwelcher Schlossbrauerei zu servieren. Eine Wohltat und für 2,40 € ein Wunder zugleich.

Die an der Kneipe von der Hauptstraße abzweigende Straße heißt „Zum Kriegswald“. Die dazu befragte Wirtin wusste nur zu berichten, dass die Straße zu einem Wäldchen führt, in dem mal in einem Krieg gekämpft wurde. Aber in welchem Krieg das war, wussten weder sie noch eine ihrer Mitesserinnen am Frühstückstisch. Macht nichts, Wikipedia weiß da auch nicht mehr. Da erfährt man auch nur, dass in besagtem Wald vermutlich vor der Besiedlung des Frankenwaldes Kämpfe stattgefunden haben.


Tag 3 (Freitag, 22.9.2023), Marienweiher-Bayreuth / 30,6 km

20.30 Uhr. Vor einer halben Stunde bin ich endlich in Bayreuth angekommen - mit einem ganz winzigen Schummeln, denn ich bin von Bindlach an der nördlichen Bayreuther Stadtgrenze eine Station zum Hauptbahnhof mit der Bahn gefahren. Das war etwa die Hälfte des Fußweges von dort zu meiner Unterkunft ganz am anderen Ende der Stadt (6,8 km). Und das war auch gut so, sonst hätte ich es nicht mehr geschafft, mir was zum Abendessen einzukaufen, denn für halb bis um acht hatte ich mich hier angekündigt.

Vom Hauptbahnhof, um den herum der Jakobsweg verläuft, war noch ein ganzes Stück bis zu meiner Unterkunft zu laufen. Die liegt in einer Reihenhaus-Siedlung am südwestlichen Rand von Bayreuth, bezeichnenderweise im Stadtteil Jakobshof. Hier wohnt Pfarrer i.R. Michael Thein mit seiner Frau. Da die Kinder ausgezogen sind, bieten sie jetzt die noch original eingerichteten „Kinderzimmer“ als Pilgerherberge an. Da sie selbst Pilger sind, wissen sie um die Not, ein Quartier zu finden. Ich habe hier im obersten der drei Geschosse das Zimmer von Tochter Lea bekommen, die lt. Taufzeugnis an der Wand inzwischen 32 sein dürfte. Mehr habe ich noch nicht in Erfahrung bringen können, denn Michael ist heute nicht da und seine Frau hatte vorhin noch ein Enkelkind „an der Backe“. Da hat sie mir nur schnell das Zimmer gezeigt und ist gleich wieder verschwunden.

Heute gibt es erfreulicherweise nicht viel vom schmerzenden Fuß zu berichten und die Sauerkraut-Schulung von gestern habe ich schon verdrängt. Da ist Zeit und Gelegenheit, vom Weg zu berichten, der heute sehr abwechslungsreich war. Aber das will ich machen, nachdem ich was gegessen und unter der Dusche gestanden habe. Da es hier wie wohl in jedem deutschen Kinderzimmer WLAN gibt, kann ich auch mal ein paar Bilder der letzten Tage schicken. Stellt am besten das Telefon auf stumm, wenn Ihr schlafen geht, damit Ihr nicht von jedem Plong beim Eingang eines Bildes aufwacht.

Daran, dass auch in Marienweiher die Glocke die ganze Nacht über jede Viertelstunde läutet, hatte ich mich schnell gewöhnt. Aber als morgens um sechs ein Geläut wie zu einem Festgottesdienst losging, hat mich das förmlich aus dem Bett geworfen. Draußen war es finster, die Wege waren nass und überall stieg Nebel auf. Da hätte man eigentlich noch eine Weile liegenbleiben können, aber ich hatte eine lange Tour vor und wollte deshalb zeitig los. Vorher habe ich mir aber noch einen Kaffee aufgebrüht und ein Brötchen vom Vortag mit Kräuterbutter und Leberwurst beschmiert - beides habe ich im Netto in kleinen Einzel­packungen bekommen. Dann bin ich raus, hab abgeschlossen und den Schlüssel zusammen mit einer Spende in den Briefkasten geworfen.

Der Weg führt vom ehemaligen Kantorenhaus, wo ich geschlafen habe, um die Kirche herum und vorbei am Friedhof. Da stehen am Wegesrand die letzten der insgesamt vermutlich 14 in mannshohe Steinplatten geschlagenen Kreuzwegstationen. Weiter ging es vorbei am Sport­platz, durch Wiesen und Gehöfte. In der Nähe eines Gehöftes steht eine winzige Kapelle, die jemand 1922 „Zur Danksagung 1914-18“ erbaut hat.

Ein Stück weiter versammelte sich eine große Schar Alpakas am Zaun, um mich zu bestaunen. In Gundlitz, wo ein kleines quadratisches Kirchlein im Dorfzentrum steht, habe ich dafür am Ortsausgang staunend in eine Fabrikhalle mit lauter Webstühlen geschaut, auf denen breite Bahnen Velours hergestellt wurden. Gleich hinter der Fabrik wurde es dann richtig interessant. Da führt der Jakobsweg durch die „Kellergasse“. Das ist ein tiefer Hohlweg, der dadurch entstanden ist, dass im Laufe der Jahrhunderte die schweren Räder der Fuhrwerke immer etwas Boden abgetragen haben, der beim nächsten Regen weg­gespült wurde. Später haben dann die Gundlitzer ihre Eiskeller in die fast senkrechten Wände dieser Gasse gegraben - insgesamt etwa 20 Stück.

Am Ende der Gasse angekommen, trifft man auf eine Straße, hinter der sich eine große Wiese einen Hang hinunterzieht. Am anderen Ende der Wiese, unten im Tal, kann man kaum die Verkehrszeichen erkennen, so weit weg ist das Ende der Wiese. Natürlich führte der Weg genau dort hinunter und anschließend in den Wald hinein. Hier war gerade jemand dabei, einen Holztransporter zu beladen. Da war links und rechts vom LKW kaum noch Platz, um vorbei zu kommen. Dann bot sich mal wieder ein grandioser Blick auf eine große Lichtung im Wald. Bänke, Rastplätze und kleine Hütten, von denen aus man solche Blicke genießen kann, gibt es hier reichlich.

Um halb elf war ich dann in Marktschorgast, worunter ich mir immer eine pulsierende, echt bayerische Stadt vorgestellt habe. Aber eigentlich handelt es sich nur um eine breite, zum Marktplatz erweiterte Straße mit vorwiegend hübschen, aber nicht spektakulären Häusern auf beiden Seiten. Eins davon ist das Rathaus, wo ich mir einen zweiten Pilgerstempel geholt habe. Einen ersten hatte ich mir schon in der sehenswerten katholischen Kirche am unteren Ende des Marktes in meinen Pilgerpass gedrückt. In Ermangelung einer anderen Einkauf­smöglichkeit (abgesehen vom Lotto-Laden mit ein paar Lebensmitteln), habe ich mir in der Metzgerei, die zugleich Gaststätte ist, ein Bier zapfen lassen.

Danach bin ich auf die schiefe Bahn geraten, die hier „schiefe Ebene“ heißt und von der Eisenbahn befahren wird. Hier hat man Mitte des 19. Jahrhunderts Unmengen an Steinen und Erdreich bewegt, um für die Bahn eine Rampe vom Tal bis hoch nach Marktschorgast zu legen, die ohne Tunnel und große Brücken auskommt. Direkt neben der Bahn verläuft ein vom Dampflokmuseum Nürnberg eingerichteter Lehrpfad, der jede noch so kleine Über­brückung oder Untertunnelung erklärt.

Der Jakobsweg verläuft zunächst auf gleicher Höhe wie die Bahn, steigt dann aber schneller ab als diese und bietet interessante Blicke auf die aus Felsbrocken erbauten riesigen Stützmauern der Bahn. In der Ferne ist schon lange Straßenlärm zu hören, der nun immer lauter wird. Es ist die Autobahn, die sich von links an den Weg heran schiebt, der jetzt immer stärker abfällt. Nun ist er regelrecht eingekeilt zwischen Auto- und Eisenbahn. Aber er steigt wieder hoch und bietet, auf Autobahnniveau angekommen, die Wahl, weiter entlang der Autobahn zu laufen, oder den Jakobsmuscheln folgend den Weg nach Himmelkron zu nehmen. Da thront weit sichtbar eine mit Schiefer gedeckte Kirche auf einem Hügel. Diese ist offen und mit ihren Deckenmalereien und den zwei U-förmigen Emporen sehr sehenswert. An einer Längsseite des Kirchenschiffes und am Altarumgang stehen Dutzende Epitaphe und Grabsteine. Da hat man bei der Predigt was zu Schauen!

Wer nach Himmelkron zur Kirchenbesichtigung kommt, hat es aber meistens nicht auf diese Kirche abgesehen, sondern auf die hypermoderne Autobahnkirche am Ortsrand. Es lohnt sich sehr, hier mal von der A 9 abzufahren und sich diese Kirche anzuschauen, die sicher auch jeden Nichtgläubigen tief beeindruckt.

Im nächsten Ort, Lanzendorf, habe ich wieder vergebens nach einem Supermarkt Ausschau gehalten. Da treffe ich auf einen kräftigen, bärtigen Mann, etwas jünger als ich, der gerade etwas aus einem mit „Harley Davidson“ dekorierten Auto in seinen Garten trägt, wo solch eine Maschine steht. Wir kommen ins Gespräch und dabei fällt meine scheinheilige Frage, ob man denn irgendwo in diesem Ort zu einer Flasche Bier kommen kann. Er überlegt und sagt dann, dass dies kein Problem sei, da er was im Haus hat. Und schon ruft er seine Frau, dass sie uns doch bitte mal was rausreichen soll. Sekunden später hielt ich ein leckeres einheimisches Zwickl in der Hand und Stefan, wie er sich vorstellte, sein favorisiertes Weiß­bier. Damit haben wir es uns auf der Bank im Vorgarten bequem gemacht. Stefan erzählte, dass er mal Elektriker gelernt hat, dann aber in den verschiedensten Berufen und Branchen gearbeitet hat, oft in leitender Position, z.B. als Betriebsleiter in einer Schnapsfabrik. Doch dann ist er mal beim Drachenfliegen unsanft auf Geröll gelandet und hat sich beide Sprunggelenke so kaputt gemacht, dass er mehrfach operiert werden musste und lange ausfiel. Nun ist es nichts mehr mit langen Wanderungen. Da fährt er wieder viel mit dem Motorrad - zusammen mit seiner Frau, die auch eine schicke Maschine vor dem Haus zu stehen hat. Früher ist er viel durch Südfrankreich gefahren, da zieht es ihn immer noch hin.

Seine Frau brachte mir dann zwischendurch ein Fläschlein mit selbst gemachtem Ringelblumen-Öl, das gegen Blasen etc. helfen soll. Damit habe ich bisher zum Glück keine Probleme, aber ich habe es trotzdem dankend angenommen. Als ich erzählte, dass ich in Bayreuth noch in der Apotheke Voltaren kaufen will, bekam ich auch davon noch eine halbvolle große Tube. Das sind sehr nette Leute und ich hätte da gern noch eine Weile gesessen. Aber ich musste weiter, wollte ja noch bis Bayreuth kommen. Ich hab‘ noch schnell ein Bild von Stefan und seiner Maschine gemacht, dann ging es wieder los.

Auf der weiteren Strecke habe ich abwechselnd den ausgeschilderten Jakobsweg und den vom Routenplaner empfohlenen Weg genutzt. Letzterer zwar oft nicht viel kürzer, aber besser zu laufen. Als ich mal wieder der Jakobsmuschel gefolgt bin, statt eine leere Service-Straße an der Autobahn zu benutzen, bin ich im tiefsten Wald gelandet, in dem es „über Stock und über Stein“ ging, was sehr behutsames und damit langsames Laufen erforderte. Das hat mich zeitlich sehr zurück geworfen.

In Bindlach, wo mein Weg die Bahnlinie kreuzt, war es viertel sieben und es standen noch knapp 7 km an. Ankunft wäre dann um acht gewesen. Da habe ich mich entschlossen, den gleich (mit Verspätung) kommenden Zug bis zum Hauptbahnhof zu nehmen. Weil schon 28 km auf dem Zähler standen und in Bayreuth nochmal drei zu laufen waren, musste ich dabei kein schlechtes Gewissen haben. Es ist halt blöd, wenn man sich vorher mit den Quartieren festlegen muss und nicht wie in Spanien spontan das Etappenende wählen kann.


Tag 4 (Sonnabend, 23.9.2023), Bayreuth-Lindenhardt / 15,4 km

9.30 Uhr. Ich sitze auf einem dicken, gefällten Baum am Wegesrand und blicke auf einen Berg, den ich hoffentlich nicht erklimmen muss. Die erste Bergwertung habe ich schon hinter mir: hinter Saas ging es steil einen Pfad hoch, der Teil einer Mountainbike-Strecke ist und einen entsprechenden Zustand hat. Da ist bis runter zu den Wurzeln und Steinen alles abgefahren. Aber irgendwie bin ich da doch hochgekommen, in Spanien trifft man laufend auf solche Wege.

Ich habe heute eine Abkürzung gegenüber dem ausgeschilderten und in der Karte verzeichneten Weg genommen. Letzterer umrundet in Bayreuth alle Sehenswürdigkeiten und führt dann entlang des Roten Mains nach Nordosten aus der Stadt heraus, also in entgegengesetzter Richtung zu den üblichen Pilgerzielen. Nach 3…4 Kilometern geht er dann, weitestgehend dem Roten Main folgend, nach Süden bis Creußen und anschließend 6…7 km nach Westen. Auf der Karte sieht man verwundert diese Ausbuchtung des Weges. Ich habe mir heute beim Frühstück erklären lassen, dass es dafür keinerlei historischen Hintergrund gibt, sondern dass man sich bei der Ausweisung des Jakobsweges der Ausschilderung wegen an vorhandene Wanderwege gehalten hat und dass diese nun mal alle am Roten Main entlang führen, der hier eine große Kurve beschreibt.

Auf diesem Weg wären es bis zu meinem heutigen Ziel, Lindenhardt, 30 km. Das ist etwas viel, wenn man sich schonen will. Ich gehe stattdessen ohne Umweg direkt nach Süden. Da sind es bis Lindenhardt nur 15 km. Das sollte reichen. Und ein schlechtes Gewissen muss ich auch nicht haben, denn sicher haben früher die Pilger mehrheitlich den direkten Weg als einen riesigen Umweg entlang eines noch so schönen Flüssleins gewählt.

11.30 Uhr. Zeit für eine Pause. Dafür bietet sich die unter anderem aus Mitteln des „Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes“ errichtete Bushaltestelle in Gosen an. Von hier fährt, auch am Wochenende, mehrmals täglich ein Bus nach Bayreuth und dreimal die Woche ein kleiner „Bürgerbus“ nach Creußen.

Mein Weg hat vorhin die Kuppe des erwähnten Berges leicht verfehlt. Auf halber Höhe ging es um den Berg herum. Bis dorthin zu kommen war aber etwas mühevoll, denn die Feldwege, die der Routenplaner herausgesucht hatte, waren nicht wirkliche Wege, sondern Trampelpfade zwischen den Feldern, über die der Bauer nicht einmal eine Kuh treiben würde. Zum Glück hat der ziemlich heftige Wind schon so früh am Tage das Gras auf den Wegen abgetrocknet, sodass man keine nassen Schuhe und Hosen bekam. Gestern in dem „Stock-und-Stein-Wald“ waren manche Wege dicht mit Gras bewachsen, welches im Schatten auch am späten Nachmittag noch nicht abgetrocknet war. Da war im Nu die Hose bis zum Knie nass und blieb das mangels Sonnenschein auch eine ganze Weile.

Die Wolken, die hier über mir aufziehen, werden immer dicker und schwärzer. Ich bin geneigt, hier noch zu verharren, bis der zu erwartende Regenguss vorbei ist.

15.30 Uhr. Ich sitze in der Gaststube des Brauerei-Gasthofes „Kürzdörfer“ in Lindenhardt am Stammtisch und habe gerade mein „Schäuferla mit Kloß und Salat“ unter Begleitung eines „Lindenhardter Bier“ aus der „Brauerei Kürzdörfer Lindenhardt“ verspeist. Extrem lecker! Ganz was anderes, als die Silage-Gläser, die vorgestern Thema waren.

Der auf dem Teller zurückgebliebene Knochen sieht wirklich wie eine Schaufel aus. Beim Schäuferla, das vor dem Verzehr einem Tortenstück ähnelt, handelt es sich nämlich um die Schulter eines Schweines, oben drauf noch mit dicker Speckschwarte. Es ist eine fränkische Spezialität, die ich nach Auskunft der Wirtin unbedingt gegessen haben muss. Die Empfehlung war gut, aber das Andere auf der Karte (Roulade, Hirschbraten, Gansbrust, Sauerbraten, Rippchen usw.) hätte bestimmt auch geschmeckt. Alles mit Klößen, manches auch mit Blaukraut. Nichts „an Salbei“ oder „auf Creme sowieso“.

Die Gaststätte auf dem Brauereigelände passt zu diesen Gerichten. Es ist ein Blockbohlen­haus und die dicksten Stämme haben bestimmt einen Durchmesser von 50 Zentimetern. Sehr gemütlich, aber auf jedem Tisch steht ein „Reserviert“-Schild. Wie ich gerade erfahren habe, wird hier gegen sechs Schluss gemacht und dann unten im Dorf im Bierzelt weiter ausgeschenkt. Dieses Wochenende ist nämlich Kirchweihfest und die Brauerei ist offenbar der Ausrichter.

Hier in Lindenhardt werde ich im Pfarrhaus übernachten. Der Pfarrer, der erst vor ein paar Tagen hier eingeführt wurde, hat vorhin angefragt, wann ich komme, weil er noch etwas zu tun hätte. Wir haben uns auf 17 Uhr geeinigt. Bis dahin ist noch Zeit für ein Glas der dunklen Lindenhardter Bier-Variante. Der Pfarrer weiß zur Not, wo ich zu finden bin.

Der Weg hierher war wirklich schön und trotz einiger Anstiege gut zu laufen. Ich konnte mir Zeit lassen und bin so gut und weitestgehend schmerzfrei über die Runden gekommen.

Bei einer Rast ist es mir gelungen, eine junge Frau in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Joggerin, die freundlich gegrüßt hat, war vielleicht 80 Meter weg, als ich im Rucksack versteckt eine noch unversehrte Bügelflasche aus dem Hause Kulmbach gefunden habe - ein leckeres „Mönchhof Lager“ das im Norma zwischen No-Name-Bier in Plasteflaschen verborgen war. Beim Öffnen gab es das typische, weithin vernehmbare „Plopp“, das die Joggerin trotz Kopfhörern wahrgenommen hat. Sie drehte sich erschrocken um und hat sicher gedacht, dass jemand auf sie geschossen hat oder dass ich hinter ihrem Rücken einen Suizid unternommen habe. Ein freundliches Winken meinerseits gab Entwarnung und sie konnte weiter ihre Runde drehen.

Das letzte Stück des Weges, der nun wieder der „richtige“ mit Jakobsmuschel ist, führte unter riesigen Windrädern hindurch und machte einen kleinen Schlenker durch den am Boden mit Moos und Farn bedeckten Wald zur Quelle des Roten Main. Da habe ich an einem Tisch sitzend vier echte Wanderer getroffen - die ersten nicht nur seit Hof, sondern auch seit Leipzig. Das heißt, ich habe erstmal gefragt, ob die Rucksäcke echt oder nur Deko sind. Die waren angeblich echt und die vier Herren mittleren Alters schon seit ein paar Tagen auf dem Fränkischen Gebirgsweg unterwegs. Die hohen Berge des Frankenwaldes hatten sie schon hinter sich, nun geht es für sie in Richtung Bamberg. Ihnen entgeht dadurch das Lindenhardter Kirchweihfest. Ob ich davon noch was mitbekomme, weiß ich nicht, denn eigentlich bin ich schon ziemlich müde.


Tag 5 (Sonntag, 24.9.2023), von Lindenhardt nach Stierberg / 27,6 km

13.00 Uhr. Ich sitze in Pegnitz am Marktplatz in einem China-Imbiss und warte auf Nr. 42, Chop-Suey mit gebratener Hühnerbrust. Jetzt habe ich richtigen Hunger bekommen und bei dem leckeren Duft aus der Tür bin ich nicht vorbeigekommen. Viel hatte ich ja heute noch nicht gegessen: morgens ein Stück Kuchen, weil im Pfarrhaus versehentlich das Brot ausgegangen war, und unterwegs ein Croissant mit Schinken und Käse, das ich vorgestern Abend im Norma erstanden habe und das noch richtig luftig und lecker war. Sowas kann man als Wanderproviant empfehlen.

Ich bin gestern um 17 Uhr aus eigener Kraft am Pfarrhaus von Lindenhardt angekommen und von Pfarrer Severin Wagner sehr herzlich begrüßt worden. Das ist noch ein junger Mann, der gerade mit dem Studium fertig ist und hier vor drei Wochen seine erste Pfarrstelle bekommen hat. Er hat mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern gerade erst das renovierte Pfarrhaus bezogen und sie leben praktisch noch aus Umzugskartons. Es fehlen noch Gardinen, Möbel usw., aber es mangelt nicht an Freundlichkeit und Nächstenliebe. In einem Raum im Erdgeschoss, wo der prunkvolle Kronleuchter noch in der Ecke steht, habe ich eine Matratze aufgebaut bekommen - mehr braucht man ja nicht, wenn man auf Pilgerschaft ist.

Während seine Frau noch die Teigrollen fürs die abendlichen Canelones füllte, hat mir Severin die Kirche gezeigt und viel über das Bauwerk und über das, was ihn hier erwartet, erzählt. Heute hatte er dort seinen ersten Gottesdienst. Aufregung hat man ihm nicht angemerkt, aber er wollte heute früh vor dem Gottesdienst, in dem die diesjährigen Konfirmanden vorgestellt werden, noch etwas vorbereiten und hat darum gebeten, dass wir schon um sieben frühstücken. Das war mir recht, denn ich wollte der anstehenden 25 km wegen zeitig los. Gern wäre ich bei seinem ersten Gottesdienst dabei gewesen, aber dann hätte ich wie am Mittwoch wieder einen Eilschritt einlegen müssen.

So konnte ich heute den Weg gemächlich angehen und vorhin sogar in Buchau einem kleinen Kneipenschild in einen Wohnzimmer-großen Raum mit umlaufender Sitzbank und vier Tischen folgen, in dem 6 Herren saßen, vier miteinander schwatzend und zwei trüb­sinnig vor sich hin schauend. Zwei weitere sind gerade rausgekommen und ins Auto gestiegen. Ich habe einfach mal so in die Runde geworfen, dass ich an einem Bier interessiert sei, da erhob sich schwerfällig ein Herr und ging an einen Schanktisch in Campingküchenformat, der von mir völlig übersehen in einer Zimmerecke stand. Und tatsächlich kam da aus dem Zapfhahn Bier: ein einheimisches „Böheim-Bier“, das durchaus trinkbar war und mich nur 2,70 € gekostet hat. Zu erwähnen sei vielleicht noch die Computer-Ecke im Gastraum, die so zugemüllt wäre, dass ich gar keine Tastatur gesehen habe, und der bullernde Kaminofen, der bei den derzeitigen Morgentemperaturen durchaus angebracht ist.

20.00 Uhr. Ich bin vor einer halben Stunde in Stierberg, einem Ortsteil von Betzenstein angekommen. Das wurde auch höchste Zeit, weil zuletzt der Weg im dichten Tann nur noch zu erahnen war. Hier im Gasthof Fischer ist noch ordentlich Betrieb. Einige Gäste wohnen sicher im Haus, andere haben hier nur den Sonntag ausklingen lassen. Ich habe hier ein Bett auf dem „Dachboden“, das heißt, in dem zur 12-Betten-Herberge ausgebauten Spitzdach einer großen Garage. Da stehen die Betten in zwei Reihen, jedes mit Lichtschalter, Steckdosen und Spind. Dazu für jeden Decken und Handtücher - geschlafen wird im Schlafsack. Zu meinem großen Erstaunen waren dort bereits mindestens fünf Betten belegt. Aus den herumliegenden Utensilien ist zu schließen, dass unter meinen Mitschläfern einige Bergsteiger sind. In dieser Gegend gibt es wohl ein paar Kletterfelsen.

Ich habe mich heute weitestgehend an den ausgeschilderten Weg gehalten, der sich als sehr abwechslungsreich erwies. Mal Wald, mal Feld, dann mal wieder ein Stück Straße. An größeren Orten gab es eigentlich nur Pegnitz. Das ist immerhin Kreisstadt. Ein hübsches Städtchen mit einer zum Markt erweiterten Hauptstraße, die sich einen Berg hochzieht. Gleich vorne an die sehenswerte St. Bartholomäus-Kirche mit einem sehr figürlichen Hochaltar, Deckenmalerei und teilweise farbigen Fenstern. Schön anzusehen. Für die St. Jakobus-Kapelle, die mich interessierte, hätte man sich den Schlüssel im Pfarramt holen müssen, wo heute natürlich niemand war.

Die nächstgelegene Jakobuskirche wäre in Bronn gewesen, den Ort habe ich aber nur gestreift. In Hüll gab es nochmal eine offen stehende Kirche mitten auf dem Friedhof, die sehr schlicht, aber ansprechend war. Da bin ich aber nur durchgekommen, weil ich auf dem letzten Stück den vom Routenplaner vorgeschlagenen Weg genommen habe, der zwischen dem in der Karte (GPS-Track) eingezeichneten „Fahrrad-Jakobsweg“ und dem ausge­schilderten „Fuß-Jakobsweg“ verläuft. Bis auf ein Stück Landstraße läuft der sich gut. Auf der Landstraße ist übrigens (wie Hape schon erkannt hat) ein Pilgerstab ganz nützlich. Läuft man ohne, dann halten manche Kraftfahrer auf einen zu, wenn Gegenverkehr ist und man muss oft ins Bankett treten. Läuft man mit Stock, dann bremsen sie aus Angst, der Stock könnte beim Aufprall den Lack beschädigen.

22.00 Uhr. Ich habe mich ganz leise in das Nachtlager geschlichen, weil ich dachte, die anderen schlafen schon. Der Tisch auf der Terrasse, den ich als Bergsteiger-Tisch angesehen habe, war leer. Als ich mich in Scheine meiner Smartphone-Taschenlampe zu meinem Bett schleiche, merke ich, dass noch alle Betten bzw. die darauf ausgebreiteten Schlafsäcke leer sind. Ok, da konnte ich Flutlicht einschalten und in Ruhe meinen Kram ausbreiten. Etwas später kamen nacheinander die Vermissten, bisher drei Damen und zwei Herren, alle vom Berliner Kletterclub, der einmal im Jahr nach Franken fährt. Ich musste mich auch gleich belehren lassen, dass es sich nicht um Bergsteiger, sondern um Kletterer handelt. Dafür, dass das ein Club-Ausflug ist, ging das hier eben sehr ruhig ab: Hose runter, Pullover aus, rein in den Schlafsack und Schlafen. Ich hatte erwartet, dass hier noch lange gequatscht und gelacht wird. Soll mir recht sein. Gute Nacht.


Tag 6 (Montag, 25.9.2023), von Stierberg nach Weißenohe / 15,4 km

13.00 Uhr. Ich sitze in Kemmathen in einem Landgasthaus direkt an der B2. Das sah schon von weitem geschlossen aus. Als ich vor der Tür stand, war sie verschlossen; im Schau­kasten weder Speisekarte noch Öffnungszeiten, nur ein heruntergefallener Zettel mit „Sonn- und Feiertags geschlossen“. Hinter den Fenstern aber ordentliche Gardinen und als ich versuche, einen Blick hinein zu werfen, kann ich nichts erkennen, sehe aber, dass Licht brennt und sich drinnen jemand bewegt. Ich schaue nochmal durch ein anderes Fenster und klopfe. Nichts. Dann bewegt sich plötzlich eine Gardine und eine ältere Dame macht mit ihrer Hand eine halbkreisförmige Bewegung. Ich folge daraufhin der Richtung, die ich dem Winken entnommen habe, und lande an der Stirnseite des Hauses, wo sich ein unbeschrifteter Seiteneingang befindet, der ins Treppenhaus führt - und zum Hintereingang der Gaststätte.

Ich nehme allen Mut zusammen (Durst macht mutig!) und drücke die Klinke. Da tut sich mir ein sehr ordentlicher, heller, großer Gastraum auf. Mittendrin der Stammtisch mit acht Männern drum rum, die grölen, als ich reinkomme, da sie mich natürlich die ganze Zeit bei meinen Versuchen, durchs Fenster zu schauen, beobachtet haben. Außer ihnen sitzt da noch ein älteres Paar an einem anderen Tisch - die Dame hatte mir den Weg gezeigt. Der Wirt, ein dicklicher Mann mit rutschenden Jeans, aber permanentem Schmunzeln, hat mir die Wahl unter drei Flaschenbieren gelassen. Ich habe ein Pilsener gewählt und ein einheimisches „Friedmann“ aus der gleichnamigen Brauerei im benachbarten Gräfenberg bekommen. Während ich versuche, mit dem dargereichten Gerstensaft meinen Durst zu stillen, und darüber nachsinne, was man gegen den Hunger tun könne, kommt der Wirt mit einem dampfenden Teller aus der Küche und bringt diesen einem der Herren am Stammtisch. Da stürze ich mich auf den Wirt und verlange das Gleiche, oder was er gerade da hat. Er hat nur, was er soeben serviert hat, Bratwürste mit Sauerkraut. Da hatte ich schon schlechteres Essen!

Also, bald kam das Essen und auf mein Bitten hin auch noch ein Teller mit Senf sowie ein zweites Bier, weil das erste verdunstet war.

Wie ich so hier am Fenster sitze, sehe ich, wie draußen zwei Frauen das Gleiche zelebrieren wie ich kurz zuvor: mehrmals die Klinke drücken und dann durchs Fenster schauen. Da ging am Stammtisch das Gelächter los, das wenige Minuten zuvor mir galt. Angestachelt von einem der Herren am Stammtisch habe ich mich angeboten, die Damen hereinzubitten und bin raus auf die Straße und hab sie angesprochen. Aber das waren anständige Mädels, die keinem fremden Herrn durch den Hintereingang in eine fragwürdige Kneipe gefolgt sind. Schade, ich hätte gern mit den ersten Wanderern auf gleichen Weg geschwatzt. Aber die Aktion hat mir wenigstens einen Obstler eingebracht, den der Herr vom Stammtisch spendiert hat, welcher mich angestachelt hat.

Meine geheimen Absichten, heute noch weiter zu laufen als bis Weißenohe, wo ich ein Bett im Pfarrhaus haben kann, haben sich damit erledigt. Mein Verlangen ist jetzt nur noch, mich lang auszustrecken und zu schlafen.

17.30 Uhr. Ich bin vor einer guten halben Stunde in Weißenohe am katholischen Pfarrhaus angekommen. Ein paar Minuten später, wie vereinbart um 17 Uhr, kam die Pfarrsekretärin und hat mich in das gegenüber auf einer Anhöhe liegende Gemeindehaus „St. Benedikt“ geführt. Das ist ein schöner Neubau, innen farblich genau wie unser Feuerwehrgebäude gestaltet. Im Erdgeschoss sind ein großer Saal (in dem gerade die Tanzgruppe übt), eine große Küche und die Sanitäranlagen. Nicht zu vergessen das Getränkelager mit Kühlschrank, zu dem ich den Schlüssel habe!

Anderthalb Etagen höher sind mehrere Zimmer und eine separate, komplett und sehr modern ausgestattete Küche mit großem Tisch, an dem ich jetzt sitze. In dem mir zugewiesenen Zimmer sind zwei Betten, ein Nachttisch und ein Kleiderständer. Das sollte für eine Nacht reichen. Erfreulicherweise liegen auch Steppdecken bereit, falls es kalt wird. In der letzten Nacht musste ich auch zwei Decken über meinen Schlafsack ziehen, weil es morgens ziemlich kühl war. Eine Dusche gibt es leider nicht, aber alles andere ist sehr komfortabel - weit luxuriöser als das am Telefon angekündigte „Bett mit Waschbecken“.

Ich werde mich hier heute auch nicht mehr wegbewegen, nur nachher nochmal rüber ins Pfarrbüro, weil ich vergessen habe, mir einen Pilgerstempel geben zu lassen. Ich habe schon viele bunte Stempel in meinem Pilgerpass und will nun auch in den verbleibenden Tagen wenigstens je einen hinzufügen. Ich habe in Gräfenberg im Norma reichlich eingekauft: für heute Abend das Übliche (Salatmix und Paprikastreifen), für morgen früh Brötchen und Frischkäse und für unterwegs zwei der spektakulären Schinken-Käse-Croissants. Das für heute Abend herangeschleppte Bier hätte ich mir sparen können, denn unten im Getränkelager ist im Kühlschrank gut gekühltes „Altfränkisches Klosterbier“ aus der Weißenoher Klosterbrauerei, also aus heimischer Produktion. Jeder der zuletzt besuchten Orte hat seine eigene Brauerei. Eine herrliche Gegend! Auch landschaftlich hat die Gegend viel zu bieten, nämlich neben Wald und Feldern auch Felsen, von denen ich einige zu sehen bekommen habe. Es muss auch ganze Felswände geben, sonst wären die Berliner Kletterer nicht extra hier her gekommen.

Gleich hinter der Pension in Stierberg habe ich im Morgengrauen auf einem Felsen die Ruine einer alten Burg zu sehen bekommen. Da hätte man über Treppen hinlaufen können, aber dazu fehlte mir morgens halb acht die Lust. Ein paar Kilometer weiter gab es ja schon die nächste Burgruine zu sehen, die Burg Wildenfels nahe dem gleichnamigen Ort. Die wurde um 1300 gebaut und gehörte dem Geschlecht derer von Wildenstein. Nach dem Bauernkrieg stürzte 1550 eine Mauer um, kurz darauf wurde die Burg im 2. Markgräflichen Krieg in Brand gesetzt und 1827 stürzte dann noch nach einem Blitzschlag die Hälfte des verbliebenen Bergfrieds ein. Jetzt ist die Burgruine an einem hochaufragenden, schmalen Stück Mauer, dem Rest des Bergfrieds, gut zu erkennen. Es ist kaum was abgesperrt, womit sich ein toller Abenteuerspielplatz ergibt. Unter der Burg kann man sogar noch in eine Höhle hinabsteigen. Das habe ich mir aber verkniffen. Es ist übrigens alles frei zugänglich und ohne irgendwelchen Eintritt zu besichtigen.

Eine noch erhaltene und offenbar seit ein paar Jahren in Privatbesitz befindliche Burg steht mitten in Hiltpoltstein: ein U-förmiges, mehrgeschossiges Gebäude thront auf einem Felsen mitten in der Stadt (oder „Markt“, wie das hier heißt). Umgeben ist der Felsen von schönen alten Fachwerkbauten, von denen einige allerdings recht ärmlich ausgeführt sind. Des Weiteren lehnt sich die Kirche fast an den Felsen. Nur ein sehr schmaler Gang trennt beide voneinander. Ich war nach vergeblicher Suche des Kirchenzugangs schon auf dem Rückweg, da hat mir eine Dame erklärt, dass ich ganz hinten in einer Ecke des Burghofes das Treppchen runtersteigen muss.

Die Kirche ist wie viele in der Gegend eine sogenannte „Markgrafenkirche“, da sie nach der Reformation an den Markgrafen fiel, der dann als Kirchenpatron Einfluss auf die Gestaltung der Kirche genommen hat. Alle „Markgrafenkirchen“ weisen, wenn auch nicht immer vollständig, bestimmte Ausstattungsmerkmale auf. Davon habe ich mir nur das große, schön verzierte „A“ (für Markgraf Alexander) gemerkt, das in den Markgrafenkirchen üblicherweise am Jochbogen prangt.

In der Hiltpoltsteiner Kirche fand ich die herunterklappbaren, einem großen Fahrradsattel ähnlichen Sitze an der Emporenbrüstung interessant. Neben manchen waren noch ab­schließbare Kästen fürs private Gesangbuch und aufgenagelte Namensschilder mit Jahres­zahl, zum Beispiel „J.R. 1841“ - das kann also nicht der uns bekannte J.R. aus Dallas sein.

In Hiltpoltstein habe ich ganz erfreut auf der Karte einen Lebensmittelmarkt „Merkel“ ausfindig gemacht, der wohl tatsächlich von Briefpapier bis Blumenerde alles hat - aber montags geschlossen ist. Da ich nun schon fast aus dem Ort raus war, bin ich nicht zum Abzweig des Jakobsweges zurückgelaufen, sondern weiter entlang der B 2, da auf der Landkarte im Nachbarort eine Landmetzgerei eingezeichnet war, die vor Ort besehen sogar mit einer „Brotzeitstube“ aufwarten kann. Aber leider ist auch diese montags geschlossen. Zum Glück bin ich auch danach auf der B 2 geblieben (die nun ein ganzes Stück von einem separaten Fußweg begleitet wurde), denn sonst wäre mir das schon geschilderte Erlebnis der acht Herren am Stammtisch entgangen.


Tag 7 (Dienstag, 26.9.2023), Weißenohe-Kalchreuth / 20,2 km

Ich habe die letzte Nacht sehr gut geschlafen. Ich habe das Fenster geschlossen und dafür die Tür zum Treppenhaus bzw. Foyer offen gelassen. Da war genug Luft und die Kälte konnte draußen bleiben. Um sechs bin ich raus, hab Kaffee gemacht und dann gemütlich und ausgiebig gefrühstückt mit allem, was der Rucksack hergab.

Dann bin ich los, hab den Schlüssel beim Pfarrhaus in den Briefkasten geworfen und mich in Richtung Bahnhof begeben. Die Pfarrsekretärin hatte mir empfohlen, dort geradeaus bis zum ausgeschilderten Jakobsweg zu gehen und diesem über die Hügel zu folgen. Aber da wäre ich in Teufelsküche gekommen. Teufelswohnzimmer und Teufelstisch sind nicht weit (siehe Karte). Ich hatte keine Lust, morgens den Berg hochzusteigen und einen im Zickzack durch die Berge verlaufenden Weg zu nehmen, der zwei Kilometer weiter eh wieder im Tal an der Bahnlinie landet. Ich habe also gleich den Weg im Tal entlang der Bahn genommen.

In Igensdorf bin ich an der St. Georg-Kirche wieder auf den Jakobsweg gestoßen. Die Kirche erwies sich als recht interessant, da sich hier an das fast quadratische, mit viel Holz versehene Kirchenschiff neuerer Machart ein Chor mit Kreuzrippengewölbe anschließt. Nicht übermäßig schön, aber sehenswert.

Kurz darauf ging es hoch auf einen Bergrücken, von dem aus man einen schönen Blick auf die Dörfer im Tal und auf den gegenüber liegenden Berghängen hatte. Die Gegend ist offenbar recht dicht besiedelt, man hat den Eindruck, dass ein Ort in den nächsten übergeht. Am schönsten Punkt stand eine Bank im Schatten, auf der ich unbedingt Pause machen musste. Meinen Plan, evtl. bis Nürnberg durchzulaufen und über Nacht nach Hause zu fahren, hatte ich da schon aufgegeben. Da hätte ich mit schnellem Schritt auf der Straße laufen müssen, statt auf steinigen Feld- und wurzligen Waldwegen.

Hinter Igensdorf habe ich beobachten können, wie der hier angebaute Hopfen verarbeitet wird. Zwei Mitarbeiter haben aus zwei großen Haufen die etwa drei Meter langen Stränge, die auf dem Feld an einem Gerüst hochranken, gegriffen und einzeln an eine Förderkette gehängt, die diese in eine Maschine zog, welche auf mysteriöse Weise die Blüten vom Rest des Grünzeugs trennte. Erstere wurden in ein großes Silo transportiert, Letzteres flog hinter der Halle auf einen großen Haufen, der in der Sonne munter vor sich hin dampfte.

Der Weg querte irgendwann einen Golfplatz, auf dem ältere Paare einen Sack Golfschläger (optional mit Sonnenschirm) hinter sich her zogen und so taten, als wüssten sie, wann welcher Schläger zu benutzen ist. Den nach einer wichtigtuerischen Schlägerwahl ausgeführten Schlag hätte ich mit meinem Wanderstock (auch Pilgerstab genannt) besser hinbekommen. Der Stock, den ich am zweiten Tag meiner Tour auf einem Holzhaufen gefunden habe, kann eh nicht genug gelobt werden. Der hat mir an den Tagen, an denen mein rechter Fuß wehtat, geholfen, diesen etwas zu entlasten. Und heute hat er beim Stolpern über eine Wurzel dafür gesorgt, dass ich ganz langsam zu Boden ging und mir nur die Hose dreckig gemacht und sonst nichts getan habe. Der Stock sollte bestimmt im Feuer landen, denn da hat schon mal ein Sägeblatt einen Schnitt bis zur Hälfte des Durchmessers gemacht. Das kann man auch als Sollbruchstelle ansehen. Wenn man mal von einem Rudel wilder Hunde oder Wölfe umgeben ist (und weiß, wie man denen zu begegnen hat), kann man den Stock leicht halbieren und die Bestien mit zwei Stöckern niedermachen. Diesen universellen Stock werde ich aber nicht mit nach Hause schleppen, sondern in Nürnberg ganz dezent am Bahnhof parken.

Auf dem Golfplatz habe ich mich dann noch mit einem Mähroboter angelegt, der ringsum einen Hektar hätte mähen können, aber ausgerechnet mir auf dem grasbewachsenen Weg entgegen kam. Dem habe ich meinen zuvor schon gelobten Wanderstock in den Weg gestellt. Da hat der Robi eine ganze Weile überlegt, in welche Richtung er fliehen soll. Im hohen Gras am Wegesrand habe ich letztlich noch einen Golfball gefunden, der sicher mal einen Pilger niederstrecken sollte. Den habe ich als Souvenir mitgehen lassen.

In Steinbach bin ich auf eine niedliche achteckige Kapelle gestoßen, welche die Einwohner in den zwanziger Jahren als Kriegergedächtnisstätte erbaut und sogar mit einer dreimal täglich läutenden Glocke versehen haben. Drinnen sind vier Bänke für je zwei Personen und ein die ganze Stirnseite ausfüllender barocker Altar. Niedlich.

Was gar nicht so nett war, ist die Versorgungslage. Obwohl ich durch viele Dörfer mit so wohlklingenden Namen wie Kleinsendelbach oder Unterschöllenbach gekommen bin, habe ich nirgendwo eine Einkehr- oder Einkaufsmöglichkeit gefunden. In Kalchreuth, meinem heutigen Ziel, wo ich kurz vor drei ankam, gibt es einige Restaurants. Am „Landgasthof zum Roten Ochsen“ bin ich vorbei, weil mir die Preise auf der Speisekarte nicht pilgergerecht erschienen. Die folgende Metzgerei hatte zwar offen, aber der angeschlossene Gasthof macht erst um fünf wieder auf. Bei der nächsten Metzgerei macht die zugehörige Gaststätte erst am Wochenende auf. Alles nicht so schlimm. In meinem Quartier, einem umgebauten Bauwagen im „Lebenslustgarten“ soll es ja einen Kocher geben. Da könnte ich mir ja eine Büchsensuppe warm machen oder ein Omelette zubereiten und mich mit einem schönen Bier in den Garten setzen. Ich muss doch gleich beim Edeka sein …

Pusteblume, das was in der Karte neben der (im Übrigen recht sehenswerten) Kirche als Supermarkt eingezeichnet ist, ist nunmehr ein Bäcker, und der hatte wegen Reparatur­arbeiten zu. Was nun? Mit Durst und knurrendem Magen wollte ich die Nacht im Bauwagen nicht zubringen. Also habe ich mich auf den Weg zu einer weiteren Gaststätte gemacht, die mir Passanten empfohlen haben - den Gasthof Reif im benachbarten Käswasser. Das war noch einmal ganz schön weit weg, wenn einem die Zunge schon raushängt. Kurz vor vier war ich da und musste erfahren, dass die warme Küche auch hier erst um fünf wieder losgeht. Aber die Stunde konnte ich gut mit einem Kulmbacher überbrücken und derweil Smartphone und Powerbank aufladen, da es in meinem Zigeunerlager ja keinen Strom gibt.

Nach dem Verzehr einer ordentlichen Leber mit reichlich Röstzwiebeln habe ich mich dann kurz vor sechs auf den Weg gemacht. Zu meinem Erschrecken war aber mein Wanderstock weg, den ich gerade so gelobt habe. Das muss jemand mitgelesen haben. Oder ich habe ihn woanders hingestellt, als mir erinnerlich ist. Aber ich wollte auch nicht zum Gaudi der vollbesetzten Terrasse dort rumkriechen und meinen Stock suchen. Der letzte Tag wird bestimmt auch ohne gehen. Ich hoffe nur, dass der Stock in gute Hände und nicht in den Kamin gelangt ist.

21.15 Uhr. Ich sitze bei Kerzenschein in meinem Bauwagen und finde es sehr gemütlich. Der Wirt hatte mir geschrieben, das er nicht da ist, aber dass alles offen steht und dass ich morgen nur die vereinbarten 20 € ins Gästebuch legen soll. Ich habe auch alles so vorgefunden wie beschrieben. Auf dem Grundstück gibt es noch ein Tipi, eine Sauna, einen Badeteich, eine Freiluftküche, Grillplätze usw. Er veranstaltet hier mit seiner Partnerin verschiedene Kurse zur Selbstfindung u. ä., die alle nichts für mich wären. Seine Partnerin habe ich gerade noch angetroffen. Sie hat mir verraten, dass in der Freiluftküche noch ein halber Kasten Bier steht. Der Abend war damit gerettet, obwohl das Bier sommerlich warm war. Das Suppekochen hat auch geklappt. Etwas heikel war nur, dass erst das vorletzte Streichholz in der Schachtel funktioniert hat. Ich habe mir damit erstmal alle möglichen Kerzen angemacht, darunter auch ein Grablicht, das morgen früh hoffentlich noch brennt, wenn ich mir Kaffeewasser aufsetzen will.

Bis jetzt ist es dank der Kerzen mollig warm. Das wird sich sicher ändern, wenn sie erloschen sind. Aber es liegen ausreichend Decken rum. Und zur größten Not gibt es noch einen Kanonenofen. Wenn der bullert, würde ich mich aber nichtmehr trauen zu schlafen.

Morgen will ich zeitig aufstehen und möglichst schon zum Hellwerden um 7 Uhr los, weil ich um 14.41 Uhr in Nürnberg den Zug nach Saalfeld bekommen will, um dann über Leipzig, Falkenberg/Elster und Jüterbog nach Berlin zu kommen. Wenn alles fährt wie es soll (die Hoffnung stirbt zuletzt), wäre ich um 21.51 Uhr Hauptbahnhof und etwa um elf in Ahrensfelde. Da ist aber viel Luft nach oben!


Tag 8 (Mittwoch, 27.9.2023), Kalchreuth-Nürnberg und Rückfahrt / 18,9 km

13.40 Uhr. Ich sitze im RE 42 von Nürnberg nach Leipzig, der 13.38 Uhr fahren sollte - ein Zug früher als geplant. Bei dem muss ich nur zweimal umsteigen (Leipzig und Dessau) und bin planmäßig schon 20.44 Uhr in Berlin - wenn er denn irgendwann mal losfährt. Ich hoffe ich sitze im richtigen Zugteil, denn die andere Hälfte wird irgendwo abgekoppelt und fährt nach Würzburg.

13.43 Uhr. Der Zug rollt. Es geht zunächst nach Fürth, so wie 1835 der „Adler“, die erste deutsche Eisenbahn, gefahren ist.

Ich bin heute früh um halb sechs aufgestanden und habe erstmal unter Zuhilfenahme des noch brennenden Grablichtes alle verfügbaren Kerzen in Gang gesetzt, den Kocher angemacht und einen Topf Wasser (aus dem Kanister vorm Wagen) für den Kaffee aufgesetzt. Dann bin ich mit der Smartphone-Taschenlampe in der Hand zum Trockenklo fast am anderen Ende des Gartens. Das ist ein richtiges Herzhäuschen und man kann beim Geschäft durch das ausgeschnittene Herz den grandiosen Sternenhimmel beobachten, wenn man nicht beim Drücken die Augen schließt. Dann habe ich mich angezogen, die Sachen gepackt und zum Kaffee die obligatorischen Schinken-Käse-Croissants von vorgestern gegessen.

Als es um halb sieben draußen zu dämmern begann, bin ich los. Nach wenigen hundert Metern auf einen Schotterweg entlang der Bahn war ich schon auf dem Jakobsweg. Der geht noch ein Stück durch das südliche Ende von Kalchreuth und biegt dann links ab. Eigentlich wollte ich entlang der Landstraße laufen, um auf glatten Belag Zeit zu sparen, aber der abzweigende Weg ist betoniert und nicht befahren. Da kann ich auch den nehmen. Der Umweg war nicht groß und kompensierte bestimmt das häufige Ins-Bankett-Springen bei entgegenkommenden Autos auf der Landstraße. Es ging dann zwar nochmal ein Stück recht holprig (ohne Stock!) durch den Wald, aber den Rest des Weges verlief auf glatt gewalztem Recycling. Der breite glatte Weg scheint ganz neu zu sein und ist vermutlich nach dem Verlegen einer Abwasserleitung angelegt worden, denn Trupps vom Nürnberger Bauhof waren dabei, die Leitung mit einer Kamera zu befahren.

Hinter der Autobahn ging es um Buchenbühl herum, vorbei an der (leider geschlossenen) modernen Himmelfahrtskirche mit einem hohen, einzeln stehenden Turm. Dann führte der Weg vorbei am Nürnberger Flughafen, der trotz dichten Nebels in Betrieb war, und durch den Volkspark Marienberg, der teilweise als Hundeauslaufgebiet ausgewiesen ist und von vielen Gassigängern benutzt wird.

Um halb elf hatte ich schon Nürnberg erreicht, viel früher als erwartet. In einem Edeka, der von Natur aus schon ziemlich eng und dann noch mit Containern vollgestellt war, habe ich mir am Fleischstand ein warmes Schnitzel fürs zweite Frühstück besorgt und mich damit in den gegenüberliegen Park gesetzt. Dann ging es bergab, weiter in die Stadt hinein.

An der ehemaligen Stadtmauer angekommen, ging es rechts auf der Straße „Vestnertorgraben“ zunächst an der Burg entlang und dann an der Gaststätte „Hexenhäusla“ über eine Holzbrücke und einen Tunnel in die Burg hinein. Ich bin nicht wie vorgegeben geradeaus gestürzt, sondern hinter dem Tunnel rechts abgebogen, um mir wenigstens den Vorhof der Kaiserburg anzuschauen. Der ist sehr hübsch mit zwei Reihen Fachwerkhäusern, die bunte Fensterläden haben. Die Kaiserburg selbst ist Museum. Dafür war keine Zeit. Zurück auf dem Jakobsweg ging es über Treppen und steil abfallende Straßen weiter ins Stadtzentrum.

Etwas Zeit habe ich mir für die Kirche St. Sebald genommen - ich wusste bisher gar nicht, dass es einen solchen Heiligen gibt. Die Kirche ist innen und außen so reich an Epitaphen, Bildern und Statuen, dass man da gut einen halben Tag zubringen kann. Ich habe auf der linken Seite des Kirchenschiffes den Hl. Jakobus und den Hl. Sebaldus (im Pilgergewand mit einer Kirche auf dem Arm) entdeckt, sowie, für mich sehr interessant, im Chor rechts einen Pilger, der statt der Muschel drei goldene, im Dreieck stehende Scheiben am Pilgerhut hat. Das sind zweifelsfrei die Wilsnacker „Wunderbluthostien“. Hier ist also ein sogenannter „Wilsnackfahrer“ dargestellt, das heißt ein Pilger nach Wilsnack in der Prignitz, wo die „Wunderblutkapelle“ im 15. Jahrhundert ein bedeutendes Pilgerziel war, im gleichen Range wie Santiago, Rom und Jerusalem. Wer das ist und warum der hier steht, weiß ich nicht und die Kirchenaufsicht konnte mir das leider auch nicht sagen.

15.00 Uhr. Inzwischen hielt der Regional-„Express“ in Fürth, Erlangen, Forchheim, Hirschaid, Bamberg, Breitengüßbach, Zapfendorf, Ebersfeld, Bad Staffelstein, Lichtenfels, Michelau, Hochstadt-Marktzeuln und Küps.

Zurück zum Weg durch Nürnberg. Gleich hinter der St. Sebald-Kirche gelangt man zum Rathaus mit dem sich anschließenden Hauptmarkt, wo immer der Christkindlmarkt stattfindet. Auch heute war da Markt, aber mit Pullovern, Taschen und irgendwelchem Trödel. Hinter der Pegnitz-Brücke biegt der Jakobsweg rechts ab. Laut Karte steht da die Statue „Der Pilger“. Die habe ich leider übersehen. Da muss ich wohl nochmal herkommen.

Durch die Kaiserstraße, über den Josephs- und den Ludwigsplatz und vorbei am „Weißen Turm“ kommt man zum Jakobsplatz mit der St. Jakobskirche. Das ist das offizielle Ende des Jakobsweges von Hof nach Nürnberg und der Beginn von Jakobswegen, die weiter nach Süden und Westen führen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass ich hier nochmal her komme. In der Kirche, die sehr sehenswert, aber bei weitem nicht so üppig ausgestattet ist wie St. Sebald, befindet sich das Nürnberger Pilgerzentrum, das aus einer Statue, einem Monitor, einer Karte, einer Wandzeitung und einer kleinen Vitrine mit Pilgerandenken besteht. Kein Mensch da, aber wenigstens ein Pilgerstempel.

16.00 Uhr. Bevor ich noch ein bisschen die Augen zumache, will ich die zuletzt mit einem Halt beehrten Orte nennen: Neuses, Kronach, Gundelsdorf, Stockheim, Pressig-Rothenkirchen, Förtschendorf, Steinbach am Wald, Probstzella, Unterloquitz.

18.10 Uhr. Dinge gibt‘s, die glaubt man kaum. Der Bayern-Thüringen-Express hat seine Verspätung aufgeholt und war pünktlich in Leipzig, wo der Anschlusszug nach Magdeburg, mit dem ich bis Dessau fahre, pünktlich kam und (fast) pünktlich abfuhr. Beide Züge waren bzw. sind ganz gut gefüllt, aber es sind noch vereinzelte Sitzplätze und mein Rucksack musste seinen Platz neben mir auch noch nicht aufgeben.

Die Sonne, deren wunderschönen Aufgang ich heute früh kurz hinter Kalchreuth erleben durfte, wirft dem Zug ihre letzten Strahlen hinterher. Es sind jetzt, kurz vor dem Sonnen­untergang noch 25 Grad, vor zwei Stunden waren es in Leipzig sogar 27 Grad. Es war also wieder eher ein Sommer- als ein Herbsttag. Insgesamt kann ich mich über das Wetter nicht beschweren. Das bisschen Nieselregen an den ersten Tagen ist ja nicht der Rede wert.

Überhaupt gibt es bei der Tour nichts zu beklagen. Ich hatte überwiegend gute Quartiere und bin stets auf freundliche Gastgeber gestoßen. Allerdings war ich auch dieses Mal, abgesehen von den muffligen Kletterern in Stierberg, stets allein in der Unterkunft, was einen leicht schwermütig werden lässt. Aber in der Regel war ich abends so müde, dass ich eh schnell eingeschlafen bin. An Wanderern getroffen habe ich nur an der Main-Quelle die vier Männer, die auf einem anderen Weg unterwegs waren, und die zwei Frauen, die sich nicht von mir in die Kneipe von Kemmathen locken lassen wollten. Die konnte ich auf der Straße nicht mal nach woher? und wohin? befragen, da sonst drinnen meine Würste und das Sauerkraut kalt geworden wären. Diese Kneipe, die etwas von Chicago während der Prohibition hatte, gehört zu den bleibenden Erinnerungen an diese Reise.

Mein Fuß hat sich inzwischen beruhigt - wie schon erwähnt, war das tagelange Humpeln aber auch mal eine wichtige Erfahrung.

Nürnberg ist nun erst einmal für eine Weile Endstation auf dem Jakobsweg nach Süden. Das klingt immerhin schon mal besser als Hof. Das über viele Monate verteilt gelaufene Stück von Stettin nach Nürnberg stellt etwa die Hälfte der alten Reichsstraße „Via Imperii“ dar, die weiter bis Rom führt. Dieser Rest würde mich auch interessieren. Ich hoffe, dass ich noch ein paar Jahre krauchen kann. So, jetzt ist meinerseits erstmal Schuss in diesem „Via Imperii“-Chat. Ich hoffe, es hat Euch nicht gelangweilt und Ihr seid wieder mit dabei, wenn ich mich in zwei Wochen auf dem Camino Portugues von Lissabon nach Santiago begebe. Bis dann!


Die obige Textfassung des gesamten, aus täglichen Nachrichten bestehenden Reiseberichtes finden Sie hier.
Benedikt Eckelt
Hof - Nürnberg
Unterwegs auf dem Jakobsweg entlang der Via Imperii
von Hof nach Nürnberg
Gelaufen im September 2023. (162 km)

Leipzig-Hof