Unterwegs auf dem Abschnitt
  • Leipzig-Hof
des Jakobsweges entlang der alten Reichsstraße, Via Imperii, die von Stettin über Berlin, Leipzig, Hof und Nürnberg nach Rom führt.
Dies ist eine weitestgehend unveränderte Zusammen­stellung der im Aug./Sep. 2023 täglich per WhatsApp an Freunde und Verwandte verschickten Tagesberichte.
Eine bebilderte Version wird demnächst auf eckelt.de/Jakobsweg zu sehen sein.

© 2023, Benedikt Eckelt

Wittenberg-Leipzig Hof-Nürnberg


Tag 0 (Mittwoch, 30.8.2023), Anreise von Berlin nach Leipzig

9.30 Uhr. Liebe Wegbegleiter, ich bin wieder ein paar Tage auf dem Jakobsweg unterwegs. Dieses Mal auf der alten Reichsstraße „Via Imperii“, die von Stettin nach Nürnberg führt. Das Stück von Stettin über Berlin nach Leipzig bin ich bereits in den letzten zwei Jahren, überwiegend in Tagesetappen, gelaufen. Nun ist das Stück von Leipzig nach Hof dran. Das sind knapp 200 km, wofür ich eine Woche eingeplant habe.

Jetzt sitze ich in der S-Bahn, die mich zum Hauptbahnhof bringen soll, aber gerade am Biesdorfer Kreuz rumsteht. Zum Glück habe ich eine S-Bahn Puffer, es könnte ja sein, dass der RE 7 nach Dessau pünktlich ist. Von Dessau geht es dann mit dem RE 13 nach Leipzig - als Deutschland-Card-Inhaber (49-Euro-Ticket) muss ich ja den Regionalverkehr nutzen. Insgesamt 2:42 Stunden Fahrtzeit sind aber akzeptabel, vor allem wenn man schon mal am ersten Kapitel des Pilgertagebuches schreiben will.

Da ich von Einigen gebeten wurde, wieder allabendlich Bericht zu erstatten, will ich das wie üblich per WhatsApp tun, wozu ich den jetzt in „Via Imperii“ umbenannten „Via Regia“-Chat benutzen werde. Wie üblich sind da Lob und Mitleid willkommen, anderweitige Kommuni­kation sollte aber in diesem Chat unterbleiben.

Die Aufregung vor einer 7-Tage-Reise im Inland hält sich zwar in Grenzen, aber trotzdem bin ich etwas angespannt. Da ist zum Beispiel der neue Rucksack, der kein Tragegestell hat und sich dadurch so packen lässt, dass er bei Ryanair als Handgepäck durchgeht. Den habe ich mir für die im Oktober anstehende Tour auf dem Camino Portugues besorgt, die mit einem Ryanair-Flug beginnt. Der Rucksack soll jetzt Probe getragen werden. Der erste Eindruck ist gut, vor allem ist er schön leicht. Gepackt sind das dieses Mal nur 5,8 kg, aber es beschleicht mich die Sorge, dass ich irgendwas Wesentliches vergessen habe. Aber in Leipzig hätte ich noch Zeit und Gelegenheit, Fehlendes zu beschaffen. Eigentlich wollte ich heute noch ein Stück von Leipzig in Richtung Süden, z.B. bis Markleeberg, laufen, aber da habe ich kein geeignetes Quartier gefunden. Deshalb werde ich heute nur ein bisschen durch Leipzig streifen, dort in einem Hostel übernachten und dann morgen die ca. 34 km bis Borna in einem Stück laufen.

Was auf dem „richtigen“ Jakobsweg bei mir verpönt ist, musste ich hier wieder machen: vorab Unterkünfte buchen, wozu ich Unmengen an E-Mails verschickt und viele Telefonate geführt habe. Um ein bisschen Pilgergefühl aufkommen zu lassen, habe ich ausschließlich Gemeinschaftsunterkünfte wie Jugendherbergen oder Schlafmöglichkeiten in Pfarrhäusern gebucht. Letzteres war nicht so einfach, da ich auf einige Anfragen per E-Mail keine Antwort bekommen habe und telefonische Anfragen schwierig sind, weil die Pfarrbüros meist nur stundenweise und in der Urlaubszeit mitunter gar nicht besetzt sind. 10.15 Uhr. Ich sitze jetzt im RE 7, der pünktlich kam, dessen Weiterfahrt sich aber nach der Lautsprecherdurchsage „wegen Vorfahrt eines anderen Zuges um wenige Minuten verspätet“.

Nun geht es aber schon weiter. In den letzten vier Wochen war ich ja viel mit der Bahn unterwegs, um zu meinen Wanderrouten im Westen Brandenburgs und zurück zu kommen. Da habe ich manches Chaos erlebt. Das Zugangebot von Berlin ins Umland ist ja prima, einige RE‘s fahren im 20- oder 30-Minuten-Abstand. Aber die Infrastruktur ist gar nicht für solch dichten Takt ausgelegt. Wenn da irgendwo eine Störung auftritt, z.B. ein Polizei- oder Notarzteinsatz, kommt alles durcheinander.

10.30 Uhr. Der Zug ist gleich in Wannsee. Das dortige Strandbad ist heute bestimmt nicht überfüllt. Wir haben gerade 16 Grad, 21 sollen es noch werden. Die Sonne versteckt sich hinter einer geschlossenen Wolkendecke. Das ist kein Bade-, aber hervorragendes Wanderwetter. Von mir aus könnte es so bleiben, aber leider ist für die nächsten Tage auch vereinzelt Regen angesagt. Das hat aber auch was Gutes, denn dann kann ich gleich die Regenhülle ausprobieren, die zum Rucksack gehört. Wenn‘s ganz schlimm wird, habe ich ja noch den Regenponcho dabei, der sich über Mensch und Gepäck ziehen lässt, aber leider auch ziemlich schwer ist. Wie immer habe ich an Gewicht gegeizt und zum Beispiel nur halb volle Tuben mitgenommen und auf Rasierzeug ganz verzichtet. Bei Wäsche war ich allerdings großzügig. Neben dem, was ich anhabe, habe ich je vier Paar Socken, Schlüppies und T-Shorts dabei, so dass ich höchstens einmal Wäsche waschen muss.

Bei der Powerbank habe ich die kleine 5000-mAh-Variante gewählt, die deutlich leichter als die 10000er ist und hoffentlich ausreicht. Geschirr und Besteck habe ich bis auf Plastelöffel und -gabel weggelassen. Zusammen mit dem Taschenmesser muss das reichen. Nicht verzichtet habe ich auf straßentaugliche Sandalen, obwohl die ziemlich schwer sind. Aber die Ballerinas, die ich auf dem ersten Camino mithatte, haben sich überhaupt nicht bewährt und leichte Badelatschen, mit denen man keinen Stadtspaziergang machen kann, bringen auch nicht viel. Ich habe hohe Wanderschuhe mit dicker, schwerer Sohle an. Die will man abends schnell ausziehen und den Rest des Tages was Leichtes, Luftiges tragen. Einen Schlafsack habe ich natürlich auch dabei, denn nicht in allen Quartieren ist mit Bettzeug zu rechnen. Und einen Wanderpulli und einen Anorak für kalte oder nasse Tage habe ich ebenfalls im Gepäck.

So, bei dieser Aufzählung ist mir nichts Fehlendes aufgefallen. Wanderführer und -karte habe ich mir wieder gespart. Statt der Karte habe ich den GPS-Track auf dem Smartphone; was es wo zu sehen gibt, kann man im Bedarfsfall googeln.

11.00 Uhr. Der Zug hat gerade Seddin passiert. Auf dem riesigen Verschiebebahnhof waren nur zwei oder drei Gleise belegt und auf dem Ablaufberg standen auch nur ein paar Waggons. Der Rest dessen, was so an Waren durch die Gegend gefahren wird, ist wohl auf den Straßen unterwegs oder steht irgendwo im Stau, zum Beispiel auf der A 2 zwischen Ziesar und Burg, wo gestern ein Gefahrguttransporter explodiert ist.

Hinter Seddin ist man dabei, einen Wald abzuholzen, in dem es offenbar gebrannt hat, da die Baumstümpfe sämtlichst schwarz sind. Etwa jeden fünften Baum hat man stehen lassen, damit die Aktion nicht als Kahlschlag zählt. Der sich anschließende dichte Wald ist offenbar Truppenübungsplatz, denn da stehen entlang der Bahnlinie weiße Schilder mit irgend­welchen Warnungen.

11.15 Uhr. Bad Belzig. Hier wollte ich schon immer mal die Therme besuchen. Vielleicht wird es in diesem Winter was. Therme macht ja nur richtig Spaß, wenn es draußen kalt ist. Hier gibt es sogar noch ein (anderweitig genutztes) Bahnhofsgebäude, das nicht verfallen ist. Viele andere an der Strecke sind in einem Zustand, der kaum noch eine Rettung zulässt. Nun geht es durch mehr oder weniger dichten Wald und durch lichte Ackerflächen. Ortschaften gibt es hier nicht viele. Gerade habe ich aber rechts einen markanten Turm gesehen, der vermutlich zur Burganlage in Wiesenburg gehört. Die nächste Station ist auch Wiesenburg - viel Ort ist hier nicht und bis zur Burg ist es offenbar ein ziemliches Stück.

Industrie sieht man so gut wie gar nicht. Lediglich in Jeber-Bergfrieden ein Sägewerk an einem ehemals größeren Güterbahnhof, den sich gerade die Natur zurück erobert.

Jetzt war neben einem dichten Kiefernwald, in dem man zwischen den Kiefern Birken sprießen lässt, eine Schonung zu sehen, in der nur Laubbäume aufgezogen werden. Offenbar unternimmt man hier wirklich was in Richtung Waldumbau. Ich bin gespannt, was ich da in Sachsen und speziell im Vogtland an Wald und Landschaft zu sehen bekomme. Das ist eine Ecke, die ich gar nicht kenne. Die Städtenamen am Weg (Altenburg, Zwickau, Plauen usw.) sagen mir was, aber gewesen bin ich dort noch nie. Wenn, dann habe ich nur mal vom Auto aus was vom Vogtland zu sehen bekommen. Im Gedächtnis ist nichts davon geblieben.

11.48 Uhr. Gerade ging es bei Roßlau über die Elbe. Die führt sogar mal ordentlich Wasser. Der viele Regen in den letzten Wochen hat dem permanenten Wassermangel ein (vorübergehendes) Ende bereitet.

12.00 Uhr. Der Zug war pünktlich in Dessau und der Zug nach Leipzig soll mit nur 5 Minuten Verspätung kommen. Da bleiben also nur ein paar Minuten Zeit, um sich auf dem Bahnhof umzusehen. Die Bahnhofshalle ist trist und mit nur einer Bank dekoriert. Allerdings gibt es reihum mehrere Möglichkeiten, sich zu beköstigen: Subway, Steinecke, Le Crobac; dazu einen Zeitungs- und einen Blumenladen, eine Spielhalle, 1-Euro-Toiletten, Schließfächer und eine „Servicestation“ der Bahn. Das ist schon richtig großstädtisch. Vor dem Bahnhof ist eine große Grünanlage, die von Neubaublocks eingerahmt ist und in der die Dessauer Straßen­bahn ihre Bahnhofsrunde dreht.

Voriges Jahr im Juni war ich hier mit 9-Euro-Ticket und meinem Schulfreund Jörg unterwegs. Der geht in drei Tagen in den wohlverdienten Ruhestand. Ich hätte sogar noch einen Monat länger arbeiten müssen, da ich nicht wie er im September, sondern ein paar Tage später im Oktober geboren bin. Jeder, der die Möglichkeit hat, sich freizukaufen und früher in Rente zu gehen, sollte die nutzen!

12.20 Uhr. Die Schaffnerin hat gerade durchgesagt, dass die Zugestiegenen „im überfüllten RE 13 herzlich willkommen“ sind. Ich hatte Glück, dass der Zug mit einer Tür genau vor mir zum Stehen kam. So habe ich den vermutlich letzten freien Platz im Waggon bekommen. Hier ist alles mit Rädern vollgestellt und ein paar Radler haben hintereinander an mehreren Türen versucht, noch reinzukommen, bis der Lokführer durchgesagt hat, dass sie sich endlich entschließen sollen, weil er gern weiterfahren würde.

Auf dem Bahnsteig stand eine größere Gruppe von Rucksackträgern, die aber wohl den gegenüber nach Emden fahrenden IC nehmen wollten. Ein paar Männer hatten Helme statt Mützen auf. Auf einem Helm stand „Saufen ist gesund“. Es ist schon erstaunlich, welche Erkenntnisse die Wissenschaft zutage fördert.

12.33 Uhr. Wolfen. Hier kamen früher die ORWO-Filme her. Gleich folgt Bitterfeld - früher beide nicht als Naturschönheiten, sondern eher durch rauchende Schornsteine und schäumende Bäche bekannt.

12.52 Uhr. Gleich ist Leipzig erreicht. Ich habe gerade mein zweites Frühstück absolviert: eine heute früh geschmierte Stulle mit Corned Turkey (Corned „Beef“ vom Truthahn). Lecker. Allerdings macht sich der Aspik-Rand nicht so gut auf der Hose.

15.20 Uhr. Ich habe gerade im GRONERS eingecheckt und mein Bett in Beschlag genommen. Mit einem Hinweis auf meine Gebrechlichkeit habe ich sogar ein Bett im Unterdeck eines der vier Doppelstockbetten im Zimmer 502 bekommen. Das ist hier alles sehr komfortabel. Die Betten sind so in einem verwinkelten Raum untergebracht, dass ich die anderen (wovon bis jetzt erst eins belegt ist) nur durch den Wandspiegel sehen kann. Die sehr ordentliche Toilette nebst Dusche geht von Zimmer ab. Im Zimmer ist noch eine Sitzecke mit Fernseher - ich hoffe, der bleibt heute aus. Die Betten sind frisch bezogen, ich kann also den Schlafsack eingepackt lassen. An der Rezeption ist (für den Notfall) eine Bar mit Terrasse, gleich daneben ein sehr ansprechender Aufenthalts- und Essensraum. Das alles direkt in der Innenstadt für knapp 22 Euro, stornierbar bis 18 Uhr am Anreisetag. Ohne Storno-Möglichkeit wären das noch drei Euro weniger gewesen. Das kann man sich merken.

Auf dem Weg hierher bin ich, nachdem ich den riesigen Hauptbahnhof inspiziert habe, unter anderem in die Nikolaikirche, die seit den Montagsdemos 1989 landesweit bekannt ist. Die ist mit ihren umlaufenden Emporen sehr sehenswert. In einer Ecke der Kirche ist ein kleiner Buchladen, in dem ich vor einem Jahr am Ende meiner Via-Imperii-Tour von Wittenberg nach Leipzig meine Schirmmütze habe liegen lassen. Ich habe ja schon mal gejammert, dass ich laufend Mützen in irgendwelchen Kirchen liegen lasse und angekündigt, diese von der Kirchensteuer abzusetzen. Letzteres hat sich aber erübrigt, denn nach meiner Frage bzgl. Fundsachen hat der Bibliothekar meine vor einem Jahr liegen gelassene Schirmmütze aus einem Schubfach geholt. Ich hoffe, die Mütze hat sich genauso gefreut wie ich.

Da bis zum Checkin um 15 Uhr noch über eine Stunde Zeit war, habe ich schon mal das Zeitgeschichtliche Museum besucht, in dem es um Ostdeutschland von Kriegsende bis zum Mauerfall geht. Das ist gut gemacht und insbesondere für auswärtige Schülergruppen bestimmt sehr interessant. Am Eingang wollte ich mir ein Audio-Guide holen, aber die Dame hat mir gezeigt, wie ich die Erklärungen auch im Internet anrufen kann. Dann sagt sie „Ich sehe, dass Ihre Batterie gleich leer ist, da gebe ich ihnen mal eins unserer Endgeräte.“ Prima. Bis jetzt bin ich also nur auf nette Leute gestoßen: der Buchhändler, die Museums­dame, der Herr an der Rezeption (der mir ein anderes Bett als vorgesehen gegeben hat) und dazu noch die Dame aus dem Pfarramt in Altenburg, die mir am Telefon erklärt hat, wie ich das Pilgerzimmer finde und welchen Code ich am Schlüsselkasten eingeben muss. Mit so netten Leuten könnte es weitergehen.

So, es ist genug Pause gemacht, jetzt starte ich meinen Stadtbummel.

21.15 Uhr. Ich bin müde, weshalb dieser letzte heutige Bericht kurz ausfallen wird. Mein Stadtbummel hat mich durch viele schöne Straßen geführt. Die alten Fassaden sind hervorragend restauriert und sehen mehrheitlich wie frisch gestrichen aus. Ich habe in der ganzen Innenstadt kein heruntergekommenes Haus gesehen und auch die Baustellen halten sich sehr in Grenzen. Es ist eine wirklich schöne Stadt. Wie es hinter dem Stadtring aussieht, werde ich morgen erzählen können.

Kurz vor dem Schließen um 18 Uhr war ich noch in der Thomaskirche, wo J. S. Bach einst Kantor war. Einer seiner Nachahmer saß da an der Orgel und hat das Kirchenschiff mit Musik gefüllt. Da sind einige, die nur mal einen Blick reinwerfen wollten, „hängengeblieben“. Ich bin da auch ein paar Minuten geblieben, um der Musik zu lauschen und die vielen Epitaphe an den Wänden zu bewundern.

Gegenüber dem Neuen Rathaus bin ich auf eine ganz moderne Kirche gestoßen: St. Trinitatis (katholisch). Das ist ein mit hellrotem Porphyr verkleideter und nach außen völlig fensterloser Bau, bestehend aus zwei Baukörpern, die durch Brückenbauten miteinander verbunden sind und damit einen Innenhof bilden, sowie einem ebenfalls hellrot verkleideten, rechteckigen Turm. Ein Baukörper beinhaltet die Kirche, der andere Verwaltungsräume, Säle und ein Café. An der Kirche stand, dass bis 18 Uhr „Offene Kirche“ ist. Es war längst nach sechs, aber die Tür stand noch auf. Also bin ich rein. Der Innenraum ist bis auf ein riesiges, gleichschenkliges Kreuz an der Wand völlig schmucklos. Kreuz und Altar sowie Teile der sich anschließenden Kapelle sind mit Ornamenten versehen, die sehr an DDR-Tapete erinnern. Da hat jemand seinen fragwürdigen Geschmack voll ausgelebt. Wie ich mich so in der Kirche umschaue, dringen Stimmen an mein Ohr - in der vom Kirchenschiff abgehenden Kapelle fand gerade ein Gottesdienst statt. Da das kein schlechter Einstieg in die Pilgertour ist, habe ich mich dazugesellt. Danach habe ich den Pfarrer um einen Pilgerstempel gebeten, für den er extra mit mir ins Pfarrbüro gelaufen ist. Beim ersten Anlauf hat er sich zwar vertan und mir einen Posteingangsstempel in den Pilgerpass gedrückt, im zweiten Anlauf war es dann der richtige Kirchenstempel, allerdings nur mit Text und ohne Logo. Da die Kirche direkt am Jakobsweg liegt, könnte man sich eigentlich was Passendes mit Muschel zulegen. Apropos Muschel - die fehlt bei meinem Outfit, da ich vergessen habe, diese vom alten zum neuen Rucksack zu translozieren. Kein Wunder, dass der neue Rucksack so leicht ist.

Um acht hatte ich dann genug vom Stadtbummel. Im nahe gelegenen REWE (bis 22 Uhr geöffnet) habe ich mir was zum Abendbrot und fürs morgige Frühstück besorgt und mich ins Hostel zurückgezogen. Hier gibt es eine sehr gut eingerichtete Küche, die am Nachmittag auch noch sehr ordentlich aussah. Auf den Abend stand da lauter dreckiges Geschirr auf der Tischplatte über dem (fast leeren) Geschirrspüler und in den Abwaschbecken. Für meine Tütensuppe musste ich erstmal einen Topf von Essensresten befreien und abwaschen. Es ist ja toll, was sich manche junge Leute auf Reisen am Abend so kochen, aber ohne Mutti bleibt das Geschirr leider dreckig zurück.

Zwischendurch war es mal etwas wuselig, da hier eine Schulklasse von geschätzt 16jährigen untergebracht ist, deren Lehrerinnen bei mir am Nachbartisch sitzen und Karten spielen. Da kamen laufend kleine Schülerdelegationen, um zu erkunden, wie es denn steht und ent­sprechend Lob oder Mitleid zu spenden. Jetzt sind die Kids verschwunden, ob „in der Koje“ oder in einer Disko weiß ich nicht. Ich weiß aber, wo ich jetzt hingehe: unter die Dusche und ins Bett.

P.S.: Reisen bildet. Bei einer englischen Familie zwei Tische weiter habe ich gerade zum ersten Mal gesehen, dass man Pizza mit der Schere schneidet.


Tag 1 (Donnerstag, 31.8.2023), von Leipzig nach Borna / 36 km

20.00 Uhr. Ich sitze in Gemeindesaal der ev. Kirchengemeinde St. Marien in Borna und löffle meine Tütensuppe - direkt aus dem Topf. Ich habe zwar vor dem Einkaufen geschaut, ob es einen Herd und Töpfe gibt, aber nicht, ob auch Suppenteller vorhanden sind. Die Schränke der sehr ordentlichen Küche sind zwar voller Geschirr, aber das sind alles nur Kaffee­gedecke. Wann trifft sich schon mal die Kirchengemeinde zum Suppe-Essen? Macht nichts, „schmegge muss es“. Da ich ziemlich hungrig war, habe ich die Buchstabensuppe verputzt, ohne vorher die Bestandteile alphabetisch zu ordnen. Hat trotzdem geschmeckt. Mein Schwager Mathias hat ja mal die Frage in den Raum geworfen, ob ein Analphabet genau so viel Spaß an einer Buchstabensuppe hat, wie unsereins. Ich glaube jetzt: Ja.

Wenn die Suppe etwas gesackt ist, werde ich zum zweiten Gang schreiten: Rühreier mit Schinken. Auf die Idee bin ich gekommen, als ich im Schrank die Bratpfannen gesehen habe. Die nette Dame aus dem Pfarrbüro, die mich hier eingewiesen hat, wollte mir gleich alle möglichen Zutaten besorgen wie z.B. Bratfett. Aber ich habe abgewunken. Wenn ich im Supermarkt nicht fündig werde, gibt es was anderes zu essen. Aber ich bin im EDEKA fündig geworden: hier gibt es 100g-Stücken Kräuterbutter, die man sicher zum Braten nehmen kann und es bleibt bestimmt noch ein Rest für die Frühstücksstullen, Pardon: „Bemmen“, wir sind ja in Sachsen. Vom Kochschinken bleibt sicher auch noch was für morgen übrig.

Während die Eier auf der Pfanne sind, kann ich ja schon mal überlegen, wo ich hier im 60-Quadratmeter-Saal meine Schlafstätte herrichte. Die Dame aus dem Pfarrbüro hatte mich gewarnt, dass es hier weder Betten noch Matratzen gibt. Nun hat sie mir aber drei große, mächtig dicke Decken hingelegt, mit denen ich mir meine Schlafstätte herrichten kann. Da werde ich schlafen wie die Prinzessin auf der Erbse.

Die Leute sind hier alle furchtbar nett. Ich bin gleich allen vorgestellt worden, die hier was im Haus zu tun hatten: der Friedhofsverwalterin, dem Kantor, einer Dame aus dem Pfarr­gemeinderat, der Dame vom Kirchdienst usw. Letztere hat angeboten, die beiden Kirchen länger offen zu lassen, wenn ich es nicht bis 18 Uhr schaffe, mir diese anzuschauen. Und wenn es irgendein Problem gibt, kann ich auch nachts bei ihr klingeln, sie wohnt gleich nebenan. Einen ordentlichen Pilgerstempel habe ich auch bekommen, sogar noch einen zweiten für den Lutherweg, der von Leipzig bis hier und noch ein Stück weiter fast deckungsgleich mit dem Jakobsweg ist.

22.00 Uhr. Die Rühreier haben hervorragend geschmeckt. Die im EDEKA erworbene Zwiebel hat der Sache den nötigen Pep verliehen.

Nun noch kurz zum heutigen Tag:

Geweckt wurde ich um Dreiviertel fünf von der Stimme eines Muezzins. Etwa nach der zwanzigsten Sure, als bereits in fast allen Betten die Leselampe an war, bin ich raus und habe das Fenster geschlossen - was nichts bewirkt hat. Leider konnte ich mit meinem miserablen Gehör nicht die Quelle orten. Aber ich vermute, dass mein Obermieter den Muezzin als Weckruf auf seinem Smartphone hat, denn kaum war die Stimme verstummt, sprang er aus dem Bett, zog sich an und verschwand in Windeseile.

Wider Erwarten bin ich nach dieser Aktion noch mal eingeschlafen, was für die Betten spricht. Um halb sieben bin ich raus, hab mir einen Kaffee gemacht, das abends zuvor erworbene Sandwich in mich hinein gewürgt und bin dann los.

Der Hinterausgang des Hostels führt direkt auf den Jakobsweg, besser gesagt auf die Via Regia, die ich im Juni gelaufen bin. Aber am Südende des Marktes kreuzt diese die Via Imperii, der ich von dort ab gen Süden gefolgt bin. Es ging noch ein Stück durch die Fußgängerzone und dann vorbei am neuen Rathaus und der gestern besichtigten St.-Trinitatis-Kirche zum Johannapark und durch diesen zur Pleiße. Im Park gab es schöne Flecken an den kleinen Teichen zu bestaunen, aber man musste immer aufpassen, dass man nicht von einem der vielen Radfahrer umgefahren wird.

Anschließend ging es lange durch dichten Wald entlang der Pleiße und später auf einem spärlich asphaltierten Waldweg, der in Markleeberg in den Equipagenweg mündet, welcher auf der einen Seite von Schrebergärten und auf der anderen Seite von mondänen Betonwürfel-Einfamilienhäusern begleitet wird.

Durch den Kees‘schen Park gelangt man dann an den Cospudener See, ein geflutetes Tagebauloch, das mit einigen anderen hier die Landschaft prägt. Parkähnliche Ufer, Bade­stellen, Bootsstege, ein paar Gaststätten usw. machen die Gegend zu einem beliebten Urlaubs- und Ausflugsziel. Nur war heute bei dem trüben Wetter nicht viel los.

In Zöbigker, einem Stadtteil von Markleeberg, war ein Schloss ausgeschildert, das unter den vielen noblen Villen gar nicht so leicht zu finden war. Etwas weiter gibt es aber eine wirkliche Sehenswürdigkeit: die Fahrradkirche Zöbigker. Da hat man eine Kirchenruine, bestehend aus ein paar Wänden und dem Stumpf eines mittschiffs stehenden Turmes wieder eine Kirche entstehen lassen. Eine Holzkonstruktion stützt die Außenwände und trägt das aus durch­scheinender, weißer Plane bestehende Kirchen„dach“. Innen steht nur der Altar, umgeben von einigen einfachen Stühlen. Das ist recht eindrucksvoll und lädt Radfahrer (und Wanderer) zum Verweilen ein.

Zum Laufen war das Wetter heute abgesehen von einem kurzen Regenguss optimal. Der Platzregen, begleitet von einem Gewitter hat mich kurz vor Böhlen im Wald erwischt. Ehe ich die als Unterstand taugende Bahnunterführung erreicht hatte, war ich bis zu den Knien klitschnass. Den Rest hat das eilig aus dem Rucksack gezerrte Regencape geschützt.

Nach einer Rast in Böhlen vorm Lidl ging es weiter nach Rötha. Dort führt der Weg vorbei an der sehenswerten Kirche und dem unscheinbaren Rathaus. Da bin ich rein und habe den Erstbesten nach einem Stempel für meinen Pilgerpass gefragt. Das war ausgerechnet einer vom Ordnungsamt. Als ich ihm sagte, dass ich schon genug Stempel auf Schreiben vom Ordnungsamt habe, hat er mich eine Etage höher geschickt. Da habe ich wieder den Erstbesten angequatscht und lag dieses Mal richtig: der Bürgermeister. Der hat ganz interessiert meinen Pilgerpass studiert und dann sein ganz persönliches Dienstsiegel gezückt und mir in den Pass gedrückt. Da steht jetzt „Stadt Rötha / Bürgermeister“. Das ist der ideale Ausgleich für den Posteingangsstempel, den mir gestern der Leipziger Pfarrer in den Pass gedrückt hat.

Entlang verschiedener gefluteter Tagebaue habe ich es dann bis nach Borna geschafft, wo ich um halb sechs aufgeschlagen bin. Bis um sechs sollte ich hier sein, weil dann die Dame im Pfarrbüro Feierabend hat; es hat also alles bestens geklappt. Ich werde aber morgen bestimmt ordentlich Muskelkater haben, denn das waren heute vermutlich über 35 km und ich habe kaum Pausen gemacht.


Tag 2 (Freitag, 1.9.2023), von Borna nach Altenburg / 24,8 km

9.30 Uhr. Heute ist ein wunderschöner Tag mit blauem Himmel und ein paar zarten Schleier­wolken, die verhindern, dass die Sonne zu stark brennt. Es sind 16 Grad und es weht ein frisches Lüftchen.

Ich habe wider Erwarten bis um sieben geschlafen. Der von der netten Dame vom Pfarramt herangeschleppte Bettenstapel war zwar wirklich weich, aber trotzdem eben, so dass manche Knochen sich nicht richtig in die Tiefe graben konnten. Mitten in der Nacht bin ich dann auf eine Reihe zusammengestellter Stühle umgezogen, die ich so aufgereiht habe, dass Schulter und Hüfte zwischen den Sitzflächen schweben und dadurch nichts drücken kann. Das ging dann ganz gut, nur dass man sich im Schlafsack auf solch einer Konstruktion nicht drehen kann. Aber trotz dieses Provisoriums und der dicht vor den Fenstern stehenden Laternen bin ich nochmal richtig tief eingeschlafen. Der Dame aus dem Pfarramt hatte ich am Abend gesagt, dass ich wohl schon weg sein werde, wenn sie um 7 Uhr kommt. Stattdessen war es schon nach acht, als ich mit Einpacken, Aufräumen und Frühstücken fertig war. So konnte ich mich aber wenigstens beim Gehen nochmal herzlich für die Gastfreundschaft bedanken.

Vom Fenster aus hatte ich übrigens einen schönen Blick auf den Martin-Luther-Platz mit den beiden Kirchen. Da ist einerseits die riesig erscheinende St. Marienkirche mit dem weithin sichtbaren weißen Turm, der bis zum traufseitigen Satteldach die gleiche Breite aufweist und wie ein riesiger Grabstein aussieht. Dass sich dahinter ein fast gleich hohes Kirchendach erhebt, sieht man erst von der Seite. Dann sieht man auch, dass das Dach des Chores deutlich niedriger ist. Innen ist die Kirche auch ohne viel Schmuck sehr ansprechend, vor allem durch die kunstvollen Kreuzrippen und den ganz hinten im lang gestreckten Chor stehenden Bilderaltar. Eine verkleinerte Kopie des mehrflügeligen Altars steht hinten in der Kirche. Da kann man „umblättern“ und sich alle Bilder in Ruhe anschauen.

Gleich neben der Kirche steht die deutlich kleinere Emmauskapelle, die erst 2008 diesen Standort eingenommen hat. Damals ist sie in 20stündiger Fahrt auf einem riesigen Sattelschlepper aus dem 12 km entfernten Heuersdorf hierher umgesetzt worden, weil das Dorf dem Kohlenabbau weichen musste. Eine Bilderausstellung in der St. Marienkirche zeigt alle Etappen der Umsetzung und es gibt auch ein Buch und eine DVD dazu. Innen ist die Kapelle sehr eng: ein kleiner Kanzelaltar zwängt sich neben einer winzigen Empore in den Chor. Im Kirchenschiff stehen zwei Reihen enger Bänke, die von einer L-förmigen Empore überdeckt werden. Auf der Empore steht ganz in einer Ecke eine kleine Orgel. Alles zusammen ist sehr gemütlich und nichts deutet darauf hin, dass die Kirche Jahrhunderte lang an einem anderen Standort stand. Bedrückend ist die in der Kapelle angebrachte, lange Liste der Dörfer, die südlich von Leipzig dem Bergbau weichen mussten. Als Wanderer kann man sich aber dadurch heute an einer wunderschönen Seenlandschaft erfreuen.

13.00 Uhr. Ich sitze auf der Terrasse der Gaststätte des Zeltplatzes Pahna, der am Rande eines Tagebaurestloches liegt. Auf dem Zeltplatz ist nicht viel los, der Strand ist trotz 22 Grad Wassertemperatur leer. Zum Glück hat die Selbstbedienungsgaststätte auf, wo es u. a. leckere Soljanka gibt. Hier könnte man eine Weile sitzen oder sich noch besser langlegen, zumal gerade dicke, dunkle Wolken aufziehen. Den möglichen Regenguss werde ich mal noch abwarten. Heute habe ich keine Eile. Es sind nur noch 13 km (3,5 Std.) bis Altenburg und ich muss nicht zu einer bestimmten Zeit da sein, da ich ja den Zimmercode habe. Ich muss nur so ankommen, dass ich noch was einkaufen kann.

Auf dem Weg hierher bin ich durch Zedtlitz gekommen, wo der Weg ein Stück entlang eines steil abfallenden Hanges verläuft. Links sind Kleingärten, rechts geht es runter zu einem Bach. Da stehen am Weg lauter Betonpfosten als Reste eines Zauns. Einige dieser Pfosten sind sehr kunstvoll mit Mosaiksteinen und allerlei Kleinkram dekoriert. Richtig hübsch. Urheber ist vermutlich jener Kleingärtner, der vor seiner Tür einen Pfahl mit Wegweisern zu den wichtigsten Pilgerzielen (Rom, Santiago) und für die hier verlaufenden Pilger- bzw. Wanderwege (Lutherweg, Jakobsweg etc.) aufgestellt hat. Dazu ein Stempelkasten mit einem richtig zünftigen Pilgerstempel.

Im nächsten Ort, Wyhra, war man bei den letzten Vorbereitungen für das heute Nachmittag beginnende dreitägige Feuerwehrfest („90 Jahre Freiwillige Feuerwehr“). Das Festzelt war schon eingerichtet, aber der Bierwagen leider noch nicht in Betrieb. Die mit vielen Hinweistafeln beworbene Gaststätte „Bauernstube“ gibt es leider nur noch als Gebäude. Ein altes Bauerngehöft hat man zum Museum („Geschichtenhof Wyhra“) hergerichtet. Die Zeit für einen Museumsbesuch habe ich mir nicht genommen, nur einen Stempel der „NEUSEEN Challenge“, die hier mit gelben Turnschuhen an Laternen ausgeschildert ist.

Weiter ging es dann vorbei an gefluteten Lehmgruben, entlang verschieden bepflanzter Felder und durch dichten Buchen-Birken-Lindenwald. Jeder Schritt macht Spaß.

22.00 Uhr. Ich bin gut in Altenburg angekommen und habe alles so vorgefunden wie angekündigt. Die am Anfang des vorigen Jahrhunderts errichtete Brüderkirche steht auf einer Anhöhe in der Verlängerung des Marktes und ist nicht zu übersehen. Es ist ein wuchtiger roter Klinkerbau mit einem großen Mosaik auf der Vorderfront. Nach den schönen Dorf­kirchen, die ich schon zu sehen bekommen habe und hier zwischen der Altstadt­bebauung wirkt sie mit ihrem Mix aus Neugotik und Jugendstil etwas deplatziert. In einem Berliner Arbeiterviertel würde man sich über einen solchen Farbtupfer freuen und keinesfalls wundern.

Ich habe im Hof die Schlüsselbox und im Pfarrhaus im zweiten Stock die Pilgerwohnung gefunden. Das ist ein nahezu ideales Quartier. Man tritt in eine gut ausgestattete Küche mit Herd, Mikrowelle, Wasserkocher und reichlich Geschirr, in der auch ein Esstisch Platz hat. Eine Tür führt in ein modernes Bad mit Badewanne (!). Weiter geht es von dort in ein kleines Zimmerchen mit einem Doppelstockbett, einem kleinen Tischchen und zwei Stühlen - wie in einer Mönchszelle, wenn man sich das Oberteil des Doppelstockbettes weg denkt.

Auf dem Bett liegt eine herrlich weiche Steppdecke und ein Stapel frischer Bettwäsche; auf dem Tisch finden sich ein Gästebuch und jede Menge Literatur über regionale Wander- und Pilgerwege. Abgesehen von den Landkarten ideal als Badewannenlektüre.

Da der Regen, der sich lange angedeutet hatte und kurz vorm Ziel anfing, recht heftig wurde, musste die Stadtbesichtigung leider ausfallen. Auf dem Weg zum Quartier habe ich mir im „Leipziger Konsum“ an der Ecke nur was auf die Schnelle geholt, weil ich hungrig war und der Bratwurstverkäufer auf dem Markt nichts mehr auf dem Grill hatte. Nachdem ich die Herberge bezogen, den ersten Hunger gestillt und etwas die Beine hochgelegt hatte, bin ich rechtzeitig vor Geschäftsschluss noch mal in den Konsum, um mir dort in aller Ruhe was fürs „richtige“ Abendbrot auszusuchen. Letztlich hatte dieses dann große Ähnlichkeit mit dem vom Vortag, nur dass die Portion größer war und mir jetzt ein bisschen schwer im Magen liegt. Man sollte mal über Fastenpilgern nachdenken, sowas mit einem Obst- und einem Gemüsesaft über den Tag verteilt …

Ein paar Kilometer vor Altenburg bin ich am Schloss Windischleuba vorbeigekommen, einer Wasserburg, die in ihren Grundfesten aus dem Jahre 925 stammt und mal eine Grenzfestung war. Jetzt ist dort eine Jugendherberge untergebracht. Da hatte ich auch wegen einer Pilgerunterkunft angefragt, aber 36 € als budgetsprengend angesehen. Vielleicht beim nächsten Mal, denn das böte die Gelegenheit, sich in diesem Renaissance-Schloss umzu­sehen, in das man sonst nicht kommt.

Zu Altenburg wäre noch nachzutragen, dass ich einen furchtbaren Schreck bekommen habe, als ich kurz vor Beginn meiner Reise in meiner Buchungsliste „Altenburg (Thüringen)“ las. Oh je, habe ich da im falschen Ort gebucht? Thüringen liegt ja gar nicht auf meiner Reiseroute. Gibt es da noch ein anderes Altenburg oder war es Altenberg - das liegt jedoch im Osterzgebirge. Aber da Google bei Eingabe der Postleitzahl nichts anderes zu bieten hatte, als ein Altenburg genau auf meiner Strecke, war ich beruhigt. Tatsächlich liegt Altenburg mit einem Stück des Weges davor und danach in Thüringen. Ein schmaler Zipfel des Landes reicht hier weit nach Sachsen hinein.


Tag 3 (Samstag, 2.9.2023), von Altenburg nach Lauenhain / 32,8 km

9.45 Uhr. Ich trotte auf einem gut asphaltierten und mit Obstbäumen bestandenen Weg vor mich hin. Das Wetter ist nicht sonderlich verlockend - sehr trübe und klamm. Darum bin ich heute früh auch nicht so richtig in die Strümpfe gekommen, sondern habe mir einen Kaffee nach dem anderen aufgebrüht und ausgiebig gefrühstückt. Zwischendurch immer mal aufs Klo - vermutlich sind es die Pflaumen, die ich gestern unterwegs von den Bäumen genascht habe.

Um viertel neun bin ich dann nach Studium und Vervollständigung des Gästebuchs los. Auf dem Weg aus der Stadt hinaus gab es noch ein paar hübsche Ecken zu sehen, denn der Weg führt am Kleinen und am Großen Teich vorbei. Letzteres habe ich mir allerdings nur eingebildet, denn der Weg biegt schon am Nordende des Großen Teiches nach links ab, aber ich bin den schönen Weg am Wasser entlang bis zum Südende gelaufen. Ich wollte dann aber weder zurück laufen, noch die gehweglose Straße benutzen, obwohl man auf der gleich hätte ordentlich abkürzen können. Ich bin stattdessen ganz brav in einem weiten Bogen durch den Altenburger Stadtwald gelaufen, bis ich wieder auf den Jakobs-/Lutherweg gestoßen bin.

So richtig kann ich mich noch nicht damit anfreunden, dass die Leute jetzt Luther hinterher pilgern sollen, wo der sich doch so verächtlich über das Pilgern ausgelassen und das Pilgern in Europa fast zum Erliegen gebracht hat. Hier ist Reliquienkult durch Personenkult ersetzt worden. Aber es gibt hier sogar Pilgerwege, die Gesteinsarten gewidmet sind. Gestern ging es ein Stück entlang der „Via Porphyria“, die dem roten Porphyr gewidmet ist. Das ist ein schöner Rundwanderweg, den man aber wohl kaum als Pilgerweg bezeichnen kann, obwohl ich gestern ein sehr gutes Pilgerheftchen zu diesem Weg in meinem Zimmer gefunden habe.

10.45 Uhr. Inzwischen bin ich in der kleinen Dorfkirche von Stünzhain, deren Schlüssel ich mir besorgt habe. Hier sitze ich in der Winterkirche, die man in der verglasten Patronatsloge eingerichtet hat. Vermutlich gibt es auch hier trotz der wenigen Stühle keine Platzprobleme. Mich hat vor allem die Steckdose neben dem Harmonium gelockt, weil mein Smartphone schon wieder eine schwache Batterie gemeldet hat.

20.30 Uhr. Es ist erst eine gute Stunde her, dass ich hier in Lauenhain angekommen bin. Wenn ich bei der Komoot-Aufzeichnung in etwa das abziehe, was sich das Programm während der Pausen ausgedacht hat, waren das mit allen Irr- und Umwegen weit über 30 km. Meine Füße bestätigen das - die tun mir ganzschön weh. Aber zum Glück scheint der Rucksack rückenschonend zu sein, denn da schmerzt nichts, obwohl ich die letzten vier Kilometer Proviant für zwei Tage den Berg hochgeschleppt habe. Die knappe Hälfte davon ist schon verputzt: gemischter Salat mit Nudeln, Käse, Fleischstückchen und Dressing, aufge­wertet durch ein Glas gegrillte Paprika.

Ich habe leider nicht gewusst, wie komfortabel ich hier wohne, sonst hätte ich wieder eine Koch- oder Bratorgie veranstalten können. Ich bin hier in Lauenhain ganz allein im evangelischen Rüstzeitheim, das aus zwei Fachwerkhäusern und einer ehemaligen Scheune besteht. In meinem Haus sind alles Zweibettzimmer, maximal zwei Zimmer teilen sich ein Bad und alle zusammen eine Küche mit gemütlicher Sitzecke. Alles recht neu und sauber. Im Haus gibt es auch WLAN, aber ich habe vergessen, mir den Code geben zu lassen. Den hätte der Herr, der mich eingelassen hat, aber vermutlich gar nicht gekannt, denn er macht das nur vertretungsweise, weil der eigentliche Herbergsverwalter, sein Sohn, im Urlaub ist - am Gardasee, wo er Anfang der Woche nach einem Regenguss im 40 cm tiefen Wasser mit dem Auto fast weggeschwemmt worden wäre.

Mangels WLAN und wegen des schlechten Netzes wird es heute keine Bilder geben. Wer weiß, ob dieser Bericht überhaupt rausgeht.

Zum heutigen Tag wäre zu sagen, dass ich meine Sonnenbrille schonen konnte. Es war den ganzen Tag über bedeckt, aber zum Glück trocken.

Bis Stünzhain hatte ich schon berichtet, weiter ging es über Ehrenberg (Schloss in Privatbesitz), Mockern, Saara, Maltis, Bornshain und Gößnitz nach Crimmitschau. Alle genannten Orte haben große Kirchen. Die in Mockern und Saara fallen dadurch auf, dass sie zusätzlich zu ihren hohen, sehr spitzen Türmen noch einen Dachreiter haben, der selbst gut als Kirchturm durchgehen würde. Diese „zweitürmigen“ Kirchen sind schon von weitem zu erkennen. Die in Saara stand sogar offen, so dass ich mich darin umsehen konnte. Beeindruckend waren hier die große, reich vergoldete Orgel und die bemalte Holzdecke.

Hinter der Kirche standen ein Partyzelt und eine Hüpfburg. Ein paar Leute standen dort mit Gläsern in der Hand, weshalb ich dachte, das ist ein Dorf- oder Kirchenfest. Ich bin deshalb einfach hingegangen und hab‘ gefragt, ob ich vielleicht ein Bier haben könnte. Der Mann am Zapfhahn nickte, nachdem er eine daneben stehende Frau konsultiert hatte. Wie sich herausstellte, war das nämlich ein Kindergeburtstag und die besagte Frau war die Mutter des gerade Mittagsschlaf machenden Geburtstagskindes. Da kein sauberes Bierglas herum­stand, habe ich zwei Kaffeebecher voll Bier bekommen. Ich hätte auch vier Eierbecher genommen!

In Bornshain fand sich am Wegesrand eine einladende Pilgerbank (2838 km bis Santiago) und dahinter in einem umgebauten Fass eine „Wanderbar“ mit Getränken, Blasenpflaster, Pilgerstempel usw. Das ist eine ganz tolle Idee! Und genau da platziert, wo die Zunge schon fast bis zum Boden aus dem Mund hängt.

In Gößnitz, gut 20 km hinter Altenburg gab es dann die erste Gelegenheit, sich im Supermarkt was für ein Picknick zu besorgen. Da war es schon fast um vier. Von Gößnitz waren es dann noch etwa 10 km bis Crimmitschau, wo ich mich in einem Lidl mit Essen und Getränken für heute Abend und für den morgigen Tag (Sonntag) eindecken konnte. Bis Crimmitschau war der Weg weitestgehend ohne Steigungen, zuletzt sogar total eben, da er parallel zur Bahnlinie und einem Bächlein verlief. Aber kaum war der Rucksack vollgepackt, ging es bergauf und kurz vor Lauenhain wieder bergab. Das Dorf liegt im Tal und ist samt Kirchturmspitze von weitem gar nicht zu sehen.

Es war vorhin zu spät und schon zu dunkel, um sich nach dem Einchecken noch im Dorf etwas umzusehen. Aber was ich auf dem Weg gesehen habe, war sehr anheimelnd, zum Beispiel die kleine Kirche mit ihrem relativ hohen Turm, die quasi auf einer Wiese steht, die von einem kleinen Bach zerschnitten wird. Auf einem Trampelpfad entlang dieses Baches verläuft der Jakobsweg …


Tag 4 (Sonntag, 3.9.2023), von Lauenhain nach Schönfels / 21,6 km

9.30 Uhr. Ich sitze in Hartmanndorf auf einer Parkbank neben dem Kriegerdenkmal und mache Pause. Gerade habe ich festgestellt, dass ich vom Jakobsweg abgekommen bin. Der verlief ja bislang immer zusammen mit dem Lutherweg. Irgendwo im Dänkritzer Wald, gleich hinter Lauenhain, ist der aber abgezweigt, was ich nicht mitbekommen habe. Nun folge ich erstmal weiter dem Lutherweg nach Königswalde und laufe dann weiter nach Marienthal, wo ich wieder auf den Jakobsweg treffe, der von Nord nach Süd durch Zwickau führt. Ich glaube, in Zwickau habe ich heute nichts verpasst - für einen Gottesdienstbesuch wäre es eh zu spät gewesen. Ehe ich da wäre, säße der Pfarrer beim Mittagessen.

Wie ich gerade erfahren habe, ist heute auf dem Flugplatz Zwickau ein Trabant-Treffen, aber der Flugplatz liegt von Marienthal aus hinter den Bahnanlagen. Solch ein Nostalgiker bin ich nun auch wieder nicht, dass ich für die Rennpappen einen Umweg einlegen würde.

Heute will ich bis Schönfels, das sind nur etwa 25 km und mit meiner Abkürzung vielleicht sogar ein bisschen weniger. Da kann ich das also ganz locker angehen, zumal ich mich dort für 18…19 Uhr angekündigt habe. Die Reservierung meines Schlafplatzes war ganz witzig. Ich hatte per Email bei der Kirchengemeinde Lichtentanne nach einem Quartier gefragt. Darauf hat mir die Urlaubsvertretung, die Pfarrerin aus Ebersbrunn, geantwortet, dass es in Lichtentanne keine Schlafmöglichkeit gibt, dass ich sie aber anrufen soll, wenn ich noch einen Tipp brauche. Am Telefon hat sie mir empfohlen, bei Frau Kramer in Schönfels anzurufen. Diese hat mir dann gesagt, dass es zwar ein Pilgerquartier mit Sofas im Jugendraum der Pfarrgemeinde gäbe, dass aber Familie Däumer was Besseres zu bieten hat. Frau Däumer hat mir dann am Telefon versichert, dass es in ihrem Haus (wo es zehn Gästebetten gibt) viel gemütlicher wäre, dass ich keinen Schlafsack bräuchte und dass ich Abendbrot und Frühstück bekäme. Das hört sich doch verlockend an.

12.00 Uhr. Ich sitze in Zwickau-Marienthal in einer Dönerbude. Ich bin schwach geworden und habe meinen Grundsatz gebrochen, Döner über fünf Euro zu boykottieren. Die Alternative wäre hier aber Verhungern gewesen. Ich bin, am Südende Zwickaus ange­kommen, extra nicht nach rechts abgebogen, um auf kürzestem Wege nach Schönfels zu kommen, sondern nach links, wo man noch etwas Stadt zu sehen bekommt, bevor man wieder auf dem Jakobsweg ist. Und weil hier in der Karte ein Imbiss eingezeichnet war.

Die Dönerbude ist leidlich frequentiert, was Voraussetzung dafür ist, dass der Spieß sich nicht schon ewig dreht. Das Angebot ist das übliche. Dem Wirt ist leider nicht anzumerken, dass ihm die Arbeit Spaß macht und sein Blick ist stets auf die offene Tür und den Fußweg davor gerichtet - vielleicht in Erwartung eines Finanzbeamten, denn wie in vielen Döner­buden scheinen auch hier die Tasten auf der Kasse nur zum Öffnen der Schublade zu dienen. Aber der Döner war gut, wenn auch nicht riesig.

21.45 Uhr. Die heutige Etappe mit nicht vielmehr als 20 Kilometern kann man durchaus als Ruhetag durchgehen lassen. Obwohl ich reichlich Pausen gemacht habe, war ich schon um halb vier am Ziel. Da ich mich viel später bei Familie Däumer angekündigt hatte, habe ich mir erstmal in aller Ruhe die Burg Schönfels angeschaut, die nach dem Passieren der vom „Liebberg“ gekrönten Anhöhe plötzlich ins Blickfeld kam. Eine gut erhaltene, annähernd elliptische Burg mit rundem Turm, die auf einem Felskegel thront. So, wie man Burgen aus einschlägigen Büchern kennt. In der Burg ist ein Museum, in dem man viel über Burgen im Allgemeinen und speziell zu dieser Burg und ihren früheren Besitzern erfährt. Beeindruckend sind die Dachkonstruktionen, in die man an verschiedenen Stellen schauen kann. Man kann auch den Turm besteigen, von dem aus man einen guten Blick auf das malerisch um einen Dorfteich gelegene Schönfels und die Umgebung hat. Lohnenswert ist außerdem der Blick von einer früheren Loge in die Burgkapelle, die gern für Hochzeiten benutzt wird und entsprechend eingerichtet ist. Auf dem Burghof ist eine Gaststätte, die ein Rittermahl zu bieten hat, aber momentan wegen Urlaub geschlossen ist. Insgesamt ist die Burg eine Besichtigung wert und ich war deshalb froh, dass ich schon so früh in Schönfels war, denn um 17 Uhr ist auf der Burg Feierabend.

Als ich meinen an der Kasse abgestellten Rucksack wieder abholte, habe ich den „Burgwächter“ gefragt, ob er das im Souvenir-Regal angepriesene Craft-Bier einer ein­heimischen Privatbrauerei auch in einer gekühlten, verzehrfertigen Version hat. Da musste er passen, aber er sagte, ich solle mal mitkommen und ist mit mir über den Hof, hat eine Tür aufgeschlossen und mich ein paar Stufen runter in eine Küche geführt, wo ein paar angefangene Bierkisten verschiedener Marken herumstanden. Aus einer der Kisten hat er mir ein wohl temperiertes „Frankenfelser“ gereicht und damit etwas gegen meine akute Unterhopfung getan. Ein guter Mensch. Und er wollte nicht mal was für die Flasche haben, da er nicht weiß, wem die halbvollen Bierkisten gehören. Auch gut. Da die Küche eigentlich für das gemeinsame Kochen bei Kinderprojekten gedacht ist, haben Bierflaschen da eh nichts zu suchen.

Danach bin ich, der Jakobswegausschilderung folgend, runter zum Dorfteich und halb um diesen herum bis zum Kriegerdenkmal auf halber Höhe des Kirchberges. Auf dem Weg dorthin gab es so viele schöne Sichten auf die Burg, dass ich beim Fotografieren den Akku fast in die Knie gezwungen habe.

Vom Kriegerdenkmal gelangt man durch eine Hintertür auf den Friedhof rings um die Kirche. Letztere war leider verschlossen. Im Schaukasten hingen aber Namen von Personen, an die man sich zwecks Besichtigung wenden kann. Eine davon war Frau Kramer, mit der ich ja schon bei der Reservierung telefoniert hatte. Die habe ich später auch angerufen und eine kompetente Kirchenführung erhalten. Vorher habe ich aber mein Quartier bezogen. Da ich Däumers Adresse gar nicht wusste, habe ich angerufen und Herr Däumer, der sich gleich als Herbert vorstellte, kam mir entgegen. Die Unterkunft ist wirklich nicht weit von der evangelisch-lutherischen Kirche entfernt - in der evangelisch-methodistischen Kirche. Den Fremden wundert es, dass es in einem Ort mit 1500 Einwohnern zwei Kirchengemeinden gibt, aber hier hat man kein Problem damit. Im Gegenteil, man kooperiert sehr gut, feiert gemeinsam Gottesdienste - mal hier und mal dort. Und man bringt Pilger, egal, bei wem sie anfragen, dort unter, wo sie am besten versorgt werden. Und das ist zweifelsfrei bei Familie Däumer der Fall. Sie wohnen im ehemaligen Armenhaus, das nach der Wende an die evangelisch-methodistisches Gemeinde fiel, die dort eine moderne Kapelle angebaut hat. Über der Kapelle ist ein großer Gruppenraum und im Spitzdach sind in drei hintereinander liegenden Räumen acht Betten, sämtlich frisch bezogen. Früher wurde das Quartier viel von Jugendgruppen genutzt. Während Corona fiel das weg und jetzt geht es erst wieder schleppend mit Gruppenfahrten los. Und Pilger waren in diesem Jahr auch erst zwei da. Das ist eine harte Probe für Herbergseltern, die so gern Gäste bewirten, wie die Däumers. Natürlich war ich wie alle Pilger, die hier schlafen, zum gemeinsamen Essen eingeladen. Und das, obwohl Frau Däumer einen geschienten Arm hat und selbst auf Hilfe angewiesen ist. Der Essenstisch war gut gedeckt, zu trinken gab es, was ich am liebsten mag und bei guten Gesprächen verging die Zeit wie im Fluge. Ein schöner Abend.


Tag 5 (Montag, 4.9.2023), von Schönfels nach Limbach / 24,5 km

19.30 Uhr. Vor einer guten Stunde bin ich in Limbach (nicht zu verwechseln mit Limbach-Oberfrohna) angekommen, später als erwartet. Eigentlich hätte ich schon am frühen Nachmittag hier sein können, aber ich habe ob der kurzen Strecke von Schönfels nach hier getrödelt und mir dann noch einen lang gehegten Wunsch erfüllt und die Göltzschtalbrücke besichtigt. Aber der Reihe nach:

Ich habe in Schönfels unterm Kirchendach so gut geschlafen, dass ich nur durch den vorsichtshalber gestellten Wecker aufgewacht bin. Ich hatte mich mit Herbert und seiner Frau Annelie zu halb acht zum Frühstück verabredet. Der Tisch war auch schon gedeckt und köstlicher Kaffeeduft waberte durchs Wohnzimmer. Ich habe gut und lecker zu essen bekommen und konnte es leider nicht abwenden, dabei fotografiert zu werden, denn Däumers vervollständigen immer die Gästebucheintragungen durch ein Foto. Ich habe deshalb selbst interessiert durch das Gästebuch geblättert und so ziemlich alle Einträge gelesen, die unisono ein Lobpreis auf die Herbergseltern sind. Ich habe mich auch sehr herzlich bedankt. Nach einem Pilgersegen in der Kapelle bin ich um viertel neun los. Da strahlend blauer Himmel war, habe ich nochmal eine Runde um den Dorfteich gedreht und fast alle Fotos vom Vortag wiederholt, weil die Burg bei richtiger Beleuchtung noch eindrucksvoller ist, als in der Dämmerung.

Der Jakobsweg führt in einem großen Bogen zunächst durch das Plexetal vorbei an einem überdachten Grillplatz bis zum Sportplatz der „SG 48 Schönfels“. Dahinter wird das Tal immer enger und kaum noch passierbar. Ich hätte ja auch schon vor dem Sportplatz abbiegen sollen! Also zurück bis zum Grillplatz und auf einem schmalen Pfad in den Wald, über die Plexe und steil den Berg hoch. Oben angekommen steht man am Feldrain und hat freien Blick. Der Weg führt entlang abgeernteter Felder nach Gospersgrün, an der Straße geht es vorbei an der Erlmühle nach Neumark/Sachsen. Auf der Karte sieht der Ort gewaltig aus, in Wirklichkeit hält sich das aber in Grenzen. Die Kirche ist außen und innen sehr sehenswert. Sie stand nur deshalb offen, weil drinnen der Glockenbauer was zu schaffen hatte. In der Apsis sind drei schöne Bleiglasfenster mit Bildern und auf Konsolen an den Wänden stehen biblische Figuren, die einen strengen Blick auf den Altar werfen. Mit nur einer Empore und einer nicht übermäßig großen (aber sehr gut aussehenden) Orgel gibt sich die Kirche vergleichsweise bescheiden.

Im Pfarrhaus habe ich mir noch einen Stempel und die Telefonnummer des Pfarramts in Limbach geben lassen, um dort wegen meiner Schlafstätte nachfragen zu können.

Dass Neumark doch was Besonderes ist, zeigt sich einerseits daran, dass die Kanaldeckel einem alten Stadtsiegel nachempfunden sind und dass es einen Supermarkt gibt - „diska“. Das muss was mir EDEKA zu tun haben, denn drinnen gab es einige „gut&günstig“-Produkte.

Es war zwar erst halb zwölf, aber ich habe mir schon mal was für ein Picknick geholt und mich damit auf einer schattigen Bank nahe der zentralen Bushaltestelle niedergelassen; mit Blick auf die Kirche, in der offenbar der Glockenbauer sein Werk vollbracht hatte, denn nun war zur Probe das gesamte Repertoire an Sonn- und Feiertagsgeläut zu hören.

Beim Picknick habe ich schon mal versucht, in Limbach im Pfarramt anzurufen. Ich habe auch tatsächlich den Pfarrer erreicht, der erfreulicherweise von der Dame, die mir per Email das Sofa im Pfarrsaal angeboten hat, informiert wurde, dass sich eventuell ein Pilger melden wird. Das hat je schon mal geklappt, denn ich hatte die berechtigte Sorge, dass meine Antwort auf die E-Mail erst am Dienstag gelesen wird, wenn das Pfarramt wieder besetzt ist. Denn wie in vielen Pfarreien ist das Büro auch hier nur an zwei Tagen offen.

Ich habe mich mit dem Herrn Pfarrer auf 18 Uhr verabredet, bis dahin war also noch viel Zeit, die ich eigentlich in Reichenbach verbringen wollte.

Der Weg von Neumark (was schon zum Vogtlandkreis gehört) nach Reichenbach ist nicht weit, führt aber ein ganzes Stück parallel zu einer Schnellstraße. Dann wechselt er durch eine Unterführung auf die andere Seite und führt nun direkt in die Stadt hinein, deren Zentrum in einem Tal liegt, während diverse Siedlungen sich auf den Hängen ausbreiten. Das ergibt interessante Blicke, wenn man auf die Stadt zuläuft. Es geht dann auch wirklich ziemlich steil runter und wenn man unten angekommen ist, erinnern manche der von oben herabführenden Straßen an Bilder aus der Krimi-Serie „Die Straßen von San Francisco“.

Der erste Laden mit was Essbarem war ein Fleischer, der ein recht gutes Mittagsangebot hatte. Da aber die Kohlrabi-Suppe, mit der ich geliebäugelt hatte, bereits ausverkauft war, habe ich mich zu einem China-Imbiss durchgefragt, wo ich mir die üblichen gebratenen Nudeln bestellt habe. Da es auch hier, wie schon beim Fleischer zum Essen nichts Richtiges zu trinken gab, habe ich mir den Weg zum nächsten Supermarkt (ein REWE ziemlich weit draußen) beschreiben lassen. Da dieser in Richtung Göltzschtal liegt, habe ich kurzerhand den Entschluss gefasst, nicht stundenlang in Reichenbach herumzutrödeln, sondern vom Supermarkt aus gleich weiter nach Mylau zu laufen und mir die Göltzschtalbrücke anzuschauen, die mich fasziniert, seit ich sie zum ersten Mal auf einem Bild gesehen habe. Allerdings wollte ich doch wenigstens der Stadtkirche „Peter und Paul“ einen Besuch abstatten, bevor ich die Stadt wieder verlasse. Da zu befürchten war, dass diese geschlossen ist, habe ich mich schon vorher um einen Stempel für meinen Pilgerpass bemüht, den ich letztlich wieder im Vorzimmer des Bürgermeisters bekommen habe. Dieses Mal hat leider nicht der Bürgermeister selbst, sondern eine Verwaltungsfachangestellte den Stempel in meinen Pass gedrückt.

Die Peter-und-Paul-Kirche, zu der es vom Markt (auf dem nicht viel los ist), noch ein Stück runtergeht, war wirklich geschlossen. Aber es stand an der Tür, dass man sich an das gegenüber liegende Pfarramt wenden kann, wenn man rein will. Das habe ich gemacht und sogleich einen richtigen Pilgerstempel und anschließend eine Kirchenführung bekommen. Allein lässt man da keine fremden Leute mehr rein. Der Herr, der mitgekommen ist, hat erzählt, dass unlängst eine unbeaufsichtigt offen stehende Kirche in der Gegend von Jugendlichen verwüstet worden ist.

Nach der Kirchentour, einem raschen Einkauf im Supermarkt und einem Mittagsschläfchen auf einer einsamen Parkbank habe ich mich in Richtung Göltzschtal begeben.

Da man von dem imposanten Bauwerk vermutlich am meisten von oben sieht, bin ich aber nicht bis runter ins Tal, sondern auf halber Höhe durch die Neubaugebiete am Hang und auf den sich anschließenden Feldwegen gelaufen. Die Brücke, mit ihren 98 Bögen in vier Etagen kam auch bald in Sicht. Sie ist lt. Wikipedia 574 m lang und 78 m hoch und damit die größte Ziegelsteinbrücke der Welt. Erbaut wurde sie von 1846 bis 1851 unter Verwendung von 26 Millionen (!) Ziegelsteinen.

Bei der Zeitplanung für meinen Ausflug habe ich leider nicht bedacht, dass die Sonne am Nachmittag hinter der Brücke steht und man folglich selbst auch auf die andere Seite muss, wenn man halbwegs brauchbare Aufnahmen machen will. Also bin ich noch bis zur Brücke hin, im Zickzack durch den Wald runter zum Fluss, über einen wegen Einsturzgefahr gesperrten Steg ans andere Ufer und auf der Straße unter der Brücke durch. Ich bin gelaufen, bis die Straße einen Knick macht - auch von da konnte ich nur die Hälfte der Brücke aufnehmen. Die andere Hälfte wäre allerdings auch durch Wald verdeckt gewesen. Die wirklich eindrucksvollen Bilder, die man von der Brücke kennt, sind meist Luftaufnahmen.

Durch diese zeitraubende Foto-Standortsuche war es dann bereits viertel sechs und abzusehen, dass ich es nicht zur vereinbarten Zeit schaffe, sondern mindestens 20 Minuten länger brauche. Ich habe mich also schnell auf die Socken und den kürzesten Weg nach Limbach gemacht. Das war nicht angenehm, denn es ging im Berufsverkehr entlang einer Straße ohne Fußweg. Davon hat Hape Kerkeling geschwärmt. Auf dem Camino Francés, wo er das erlebt hat, gibt es sowas aber nicht mehr.

„Pünktlich“ um 18.20 Uhr war ich in Limbach, wo mich Pfarrer Engler nach einer Kirchenbesichtigung in mein Quartier eingewiesen hat. Es ist wie vorher angekündigt, nicht übermäßig komfortabel, aber für eine Nacht ausreichend: eine große Couch im Pfarrsaal und ein paar Türen weiter die Toilette und eine Küche. Das hat mich nicht schockiert, aber die Auskunft, dass es in Limbach (1400 Einwohner) keine Einkaufsmöglichkeit gibt. Zweimal in der Woche kommt ein Wagen mit Lebensmitteln.

Auf meinen hungrigen Blick hin hat mir der Herr Pfarrer einen dicken Brotkanten zukommen lassen, der zusammen mit einer Tütensuppe und vier Ferdi-Würsten ein ganz ordentliches Abendbrot ergab.


Tag 6 (Dienstag, 5.9.2023), von Limbach nach Weischlitz / 30,2 km

21.45 Uhr. Bis kurz vor abends um sieben hätte ich heute sagen können „und täglich grüßt das Murmeltier“, denn vieles war wie gestern: Es war eigentlich eine nicht so lange Tour, aber mir kam die Idee, eine nahe dem Weg liegende Sehenswürdigkeit zu besuchen. Der Umweg, der sich daraus ergab, hat wieder dazu geführt, dass ich meine 18-Uhr-Verabredung am Zielort nicht einhalten konnte. Dann nahm der Tag aber eine ganz andere, sehr schöne Wendung. Aber der Reihe nach.

Ich habe in Limbach auf der riesigen Couch im Pfarrsaal hervorragend geschlafen und bin wahrscheinlich nur deshalb um sieben aufgewacht, weil draußen der Straßenverkehr zunahm. Das Pfarrhaus liegt zwar etwas erhöht zusammen mit Friedhof und Kirche an einem Rondell neben der Dorfstraße, aber die Fensterfront hinter meiner Couch war der Straße zugewandt.

Nach dem Frühstück, bestehend aus Kaffee und einer Scheibe des leckeren Brotes, das ich am Vorabend abgestaubt hatte, ging es gegen acht los.

Von Limbach führte der Weg über Herlasgrün und Neudörfel an den Stausee von Pöhl, der sich mit vielen Verästelungen gut in die Landschaft einfügt. Die Uferbereiche sind sehr gepflegt. Da, wo ich auf den See gestoßen bin, reichen Bungalowsiedlungen bis ans Wasser. Daran schließen sich Liegewiesen und Badestände an. Der Weg führt über einen riesigen (Bezahl-) Parkplatz, auf dem drei Autos standen. Es sind zwar keine Ferien mehr, aber bestes Sonnen- und Badewetter. Da ist es unbegreiflich, dass kaum jemand am Wasser zu sehen ist. Die Strandbar war genau so leer wie der daneben befindliche (Bezahl-) Hüpfburgen-Spielplatz. Das kann aber auch an den Preisen liegen - vier Euro für eine Bockwurst haben auch mich dazu bewegt, weiterzugehen.

Die Talsperre selbst, die einen sanften Bogen beschreibt, unterscheidet sich von manchen anderen dadurch, dass sie nicht zwischen zwei Felsen gepresst ist, sondern mit ihrer Krone etwa die Höhe des Terrains rund um den Stausee hat. Aber auf der rechten, dem See abgewandten Seite geht es tief hinunter und hoch bergauf. An der Sohle der Talsperre plätschert etwas Wasser, welches das Bächlein „Trieb“ speist und beidseits geht es recht hoch hinauf.

Der ausgeschilderte Jakobsweg verläuft entlang der Straße über den Stausee und biegt dann rechts in den Wald ab. An dieser Stelle verkündet eine riesige Steinplatte, dass die Talsperre Pöhl „ein Großbau des Sozialismus“ ist und 1964 „zum 15. Jahrestag der DDR ihrer Bestimmung übergeben“ wurde. Zum Glück ist die Talsperre langlebiger als die DDR.

Der Jakobs- und verschiedene andere Wanderwege verschwinden also im Wald und führen stetig bergauf bis zu einer Stelle, wo sich vor fünftausend Jahren mal eine Siedlung befand und wo in den letzten Jahrhunderten nach Eisenerz gebuddelt wurde. Dort biegt die Mehrzahl der Wege links ab, andere führen hinunter ins Tal und über kleine Brücken ans andere Ufer der Trieb und dann den Berg hoch nach Jocketa. Ich habe einen dieser Wege genommen, leider einen, der wenig begangen und deshalb ziemlich zugewuchert war. Unten im Triebtal sprudelt ein munterer Bach, der sich um Felsbrocken windet und mit vielen kleinen Stromschnellen in Richtung Weiße Elster fließt. Eigentlich ist es im Tal durch die dicht belaubten Bäume ziemlich finster, aber die Sonnenstrahlen finden durch ein paar Baum­lücken doch den Weg bis nach unten und lassen das Wasser an vielen Stellen silbern glänzen.

Oben in Jocketa angekommen, war mein erstes Ziel der EDEKA-Ableger „Simmer“, wo ich mir was für ein Picknick besorgt habe. Als Ort für die Zelebrierung des Frühstück-/Mittag-Ersatzes bot sich ein überdachter Rastplatz in einem Park an. Die alte Dame, die dort schon saß und ihren 4 Monate alten Urenkel im Kinderwagen schaukelte, hat nicht nur erlaubt, dass ich mich dazu geselle, sondern hat auch ganz nett mit mir geplaudert. Sie hat erzählt, dass sie ganz am Ende der Straße wohnt, aber den Kleinen, dessen Mutter krank ist, nicht zum Schlafen in den Garten stellen kann, weil nebenan mit viel Lärm an der Brücke gebaut wird.

Und da haben wir schon den Grund meines Ausfluges: die Elstertalbrücke, die der Göltzschtalbrücke ähnlich, aber ein Stück kleiner ist. Hier wurden „nur“ 12 Millionen Ziegel verbaut.

Die Elstertalbrücke wurde auch 1846-51 für die Eisenbahnlinie Leipzig-Hof gebaut und überspannt mit 279 m Länge und 68 m Höhe die Weiße Elster. Sie ist wie die Göltzschtal­brücke konstruiert, hat aber nur zwei statt vier Etagen. Davon ist aber momentan nichts zu sehen, weil die Brücke umfassend saniert wird und deswegen vollständig eingerüstet ist. Das muss den Brückenbewunderer nicht traurig stimmen, denn mit Gerüst sieht die Brücke noch viel interessanter aus. Solch ein riesiges Gerüst habe ich noch nie gesehen und hätte ich mir nicht vorstellen können. Angeblich ist es das größte Gerüst Europas. Die Brücke ist auf voller Länge, Höhe und Breite eingerüstet, was einen unglaublichen Aufwand an Rüstung erfordert.

Die Bauarbeiten sind so koordiniert, dass jeweils ein Gleis der wichtigen Bahnverbindung nutzbar bleibt. Es wird hier also im laufenden Betrieb gebaut. Das gibt es bei der Bahn nicht oft.

Schade an den Bauarbeiten ist jedoch, dass fast alle Wanderwege unterhalb der Brücke gesperrt sind, unter anderem jener, der auf halber Höhe des Viadukts auf die andere Seite führt. Also heißt es, ins Tal runter steigen, ein Stück entlang der Weißen Elster laufen, die Trieb an ihrer Mündung auf einer Brücke überqueren und dann den Weg hoch zu der Stelle mit der ehemaligen Steinzeitsiedlung. Nach vier Stunden, einigen Kilometern und vor allem etlichen Höhenmetern war ich wieder dort, wo ich den Jakobsweg verlassen hatte.

Der Weg führte nun weiter bis auf den höchsten Punkt der Gegend, dem Eisenberg, und dem darauf befindlichen Mosenturm, benannt nach einem thüringischen Dichter. Nach den vielen Höhenmetern kam es nun auf die 14 Meter (74 Stufen) auch nicht mehr an und ich bin hochgestiegen, um die wirklich grandiose Sicht auf den Stausee und die Umgebung zu genießen. Bei einer frischen Briese und etwas Schatten durch die Haube des Turmes, hätte man es da eine Weile aushalten können. Aber der Blick auf den Routenplaner zeigte, dass es noch 14 km (3,5 Std.) bis Weischlitz sind und ich mich beeilen muss, um pünktlich am Ziel zu sein. Erst habe ich mich noch an den ausgeschilderten Jakobsweg-Verlauf gehalten. Da aber die gut gemeinten Windungen und Kurven des Weges entlang der Weißen Elster und des Mühlgrabens nicht die kürzeste Strecke darstellen und vom Routenplaner nicht berücksichtigt wurden, verschob sich die voraussichtliche Ankunftszeit immer mehr in Richtung 18 Uhr und darüber hinaus. Deshalb habe ich in Plauen den Weg entlang der Thiergartenstraße gewählt und die Altstadt ausgelassen. Da gerade Berufsverkehr war, war es dort bestimmt auch besser zu laufen, als durchs Zentrum. Leider brannte die Sonne ganz schön herunter und Schatten gab es nicht mehr viel, weil der Wald Feldern gewichen ist. Da musste ich zwischendurch in einem Supermarkt Wasser nachtanken.

In Kürbitz, dem letzten Ort vor Weischlitz, bin ich zu meiner großen Überraschung an zwei geöffneten Gaststätten vorbei gekommen, an einem Landgasthof mit schönem Biergarten und einer Fleischerei mit Gastwirtschaft. Der Karte nach gibt es außerdem noch einen „Goldenen Löwen“.

Nun waren es noch zwei Kilometer und es kam bereits von Ronny, dem Herbergsverwalter, die vereinbarte WhatsApp mit der Angabe, wo ich ihn treffe. Trotzdem bin ich noch schnell in den am Weg liegenden „diska“-Markt, um mir was für das Abendbrot zu kaufen. Ich wusste ja nicht, dass das überflüssig ist.

Bei Ronny angekommen, begrüßte er mich gleich mit der Frage, ob ich was trinken will. Und als wir schon unterm Carport ansetzen wollten, kam seine Frau, Nadine, dazu und meinte, wir sollten uns doch auf die Terrasse setzen. Kaum hatten wir es uns dort gemütlich gemacht, fragte Sie, ob ich gern mit Abendbrot essen möchte, es gäbe aber nur die kalte Variante. Da habe ich mich nicht lange betteln lassen und bei frischem Brot, leckerem Blauschimmelkäse, Wurst etc. ordentlich zugelangt. Bis zum Dunkelwerden haben wir noch zusammen auf der Terrasse gesessen und geplaudert. Beide stammen aus dem Ort bzw. der unmittelbaren Umgebung und haben u. a. von ihrer Kindheit nicht weit weg vom Grenzzaun berichtet. Und von der Grenzöffnung, die ihnen neue Abenteuerspielplätze erschloss. Nadine erzählte, wie sie mit dem Vater die seit dem Krieg nur halbfertige große Autobahnbrücke erkundet hat, während die Mutter nichtsahnend Essen kochte.

Auch jetzt ist sie gern auf Erkundungstour, meist mit der Tochter (Anfang 20) in den Alpen. Rucksackschleppen und Übernachtungen in Gemeinschaftsunterkünften sind ihr also ein Begriff. Ronny hat es nicht so mit dem Hochgebirge, er fährt derweil zum Beispiel für ein paar Tage nach Kroatien. Bei dieser Plauderei wurde es wie gesagt spät und dunkel. Da war es Zeit, in mein Quartier in der nahen CVJM-Herberge aufzubrechen. Ronny hat mir in dem momentan nicht belegten Haus alle Räumlichkeiten gezeigt und mir die freie Bettenwahl überlassen.

Als er weg war, habe ich nach umfänglicher Dusche wenigstens noch den gekauften Salat verputzt, damit der nicht vergammelt, und noch etwas auf dem Smartphone getippt, bevor ich ins Bett bin.


Tag 7 (Mittwoch, 6.9.2023), von Weischlitz nach Hof / 25,1 km

12.45 Uhr. Die Reihe netter Leute reißt nicht ab. Da es in der Herberge keinen Pilgerstempel gab und ich vergessen habe, beim Bäcker nach einem Stempel zu fragen, habe ich in den nächsten, noch zu Weischlitz gehörenden Dörfern nach einer Firma Ausschau gehalten, die mir einen Stempel mit dem Ortsnamen in den Pilgerpass drücken kann. Die liebsten Firmen sind in solchen Fällen Gasthöfe. Und siehe da, in Ruderitz stand ich plötzlich vor einem alten Fachwerkhaus mit Kneipe. Da ist zwar offiziell nur am Wochenende geöffnet, aber die Tür stand offen und auf mein Rufen kam der Wirt. Ich habe ihm mein Anliegen vorgetragen und er begab sich auf die Suche nach seinem Stempel, den wir schließlich gemeinsam gefunden haben. Er hat mich nach dem Stempel-Akt noch gefragt, ob ich was trinken will, vielleicht ein Wasser. Ich meinte, das wäre eine gute Idee, dass es aber nicht unbedingt Wasser sein müsste, sondern dass es auch ein Bier täte. Dabei habe ich auf deinen Zapfhahn geschielt, aber die Anlage wird ja erst am Freitag wieder angeschmissen. Er ist daraufhin nebenan ins Haus und kam nach einer Weile mit einem leckeren, eiskalten Mönchshof-Zwick‘l zurück, für das er nicht mal etwas haben wollte. Ich habe brav gedankt und mich mit der Flasche in einen schattigen Pavillon auf dem Hof gesetzt. Es hat nicht lange gedauert und der Wirt kam dazu und nach dem üblichen „wohin?“ und „woher?“ entwickelte sich ein sehr schönes Gespräch. Er erzählte von einem Pilger, der schon dreimal bei ihm übernachtet hat - jeweils auf dem Weg nach Santiago, Rom und Jerusalem. Danach hat er nichts mehr von ihm gehört. Ein anderer aus der Gegend ist auf dem Weg von Plauen nach Santiago bis Frankreich gekommen und hat dort aufgegeben, weil er ohne Sprachkenntnisse nicht weiter kam. (Meine große Sorge!) Ein paar Jahre später hat er dann aber allen Mut zusammen genommen und an dieser Stelle in Frankreich weitergemacht - bis Santiago.

Der Wirt selbst dreht hier wegen kaputter Knie nur kleine Runden, um nach einer schweren OP wieder fit zu werden. Er erzählte, dass er in den 1990ern lange in Frankreich gearbeitet hat. Ein großer deutscher Konzern hatte den Auftrag für die Verkabelung neuer Wohngebiete gewonnen und er war da als Spezialist für SECAM gefragt. Wir haben doch seinerzeit bei der Einführung des Farbfernsehens (1969) das in Frankreich und beim „großen Bruder“ benutzte SECAM-System und nicht das in Westdeutschland und anderen Ländern verwendete PAL-System übernommen. Darum konnte man ja anfangs mit einem Ostfernseher Westsender nur in Farbe sehen, wenn man ein Zusatzgerät hatte, das PAL in SECAM wandelt.

Er hat sich in der Zeit selbständig gemacht und wäre gern in Frankreich geblieben, wenn er richtig Französisch gekonnt hätte. Aber nun hat er sich hier die Gaststätte zugelegt und betreibt diese als Hobby, statt sich mit 65 zur Ruhe zu setzen.

18.45 Uhr. Ich bin gerade in Hof angekommen und warte im Haus am Klosterhof auf den Schlüssel für die gegenüber liegende Pilgerherberge. Beides gehört zur „Sozialstation Oberfranken“. Das Personal hier ist aber gerade mit Essenverteilen auf der Pflegestation beschäftigt. Das macht nichts, hier gibt es bequeme Sessel und eine Steckdose in der Nähe, die ich dringend brauche, weil das Smartphone fast leer ist und die Powerbank auch nichts mehr rausrückt. Ich muss wohl bei der nächsten Tour die größere Version (10000 mAh) mitnehmen, um sorgenfrei über den Tag zu kommen. Ich musste jetzt schon wiederholt am Nachmittag den Flugmodus einschalten, damit das Smartphone nicht abschaltet und ich ohne Landkarte dastehe. Als einen Übeltäter habe ich übrigens die „Notizen“-App identifiziert, denn immer wenn ich wie heute unterwegs was geschrieben habe, sah es abends so mau aus. Warum ein primitiver Editor so viel Strom frisst, ist mir rätselhaft.

23.00 Uhr. Ich habe längst das Pilgerzimmer bezogen, was eingekauft, gegessen, geduscht und den halben Bücherschrank leer gelesen. Nun will ich noch den Tagesbericht komplettieren, wohl wissend, dass ich den heute nicht mehr verschicken kann, weil nicht nur im Pilgerzimmer hinter dicken Klostermauern, sondern auch auf dem Hof kein Internet-tauglicher Empfang ist und kein WLAN zur Verfügung steht. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn ich mir nicht noch eine Zugverbindung für die Rückfahrt nach Berlin raussuchen müsste. Ich habe aber auch keine Lust, nachts durch die Stadt zu ziehen, bis mal brauchbarer Empfang ist. Ich werde morgen ausschlafen und mich dann zum Bahnhof begeben, wo ich mich überraschen lasse.

Zur Liste der netten Menschen kann ich noch zwei hinzufügen. Das ist einerseits eine Mitarbeiterin des Gutshofes in Gumpertsreuth, die mir durch die Hintertür des geschlossenen, zum Gutshof gehörenden Gasthofes eine Flasche kaltes Sprudelwasser besorgt hat, und andererseits ein Herr Günter Müller, den ich zwar nur vom Telefon kenne, dem ich aber diese gute Unterkunft in Hof zu verdanken habe. Er hat diese vor gut zehn Jahren etabliert und fungiert als Pate der Herberge. Diese besteht aus zwei quadratischen Räumen von je etwa 10 Quadratmetern. Im hinteren Raum stehen zwei Doppelstockbetten und im vorderen Tisch und Stühle, ein Küchenbüffet mit Geschirr, Besteck und vielen nützlichen Dingen wie z. B. Schraubenziehern und Verbandszeug. In einem kleinen Regal finden sich zudem ein paar haltbare Lebensmittel, Getränke und Süßigkeiten, die man sich gegen eine kleine Spende nehmen kann. Ein Wasserkocher nebst Kaffee und Tee steht auch zur Verfügung. Außerdem gibt es jede Menge Lesematerial zur Via Imperii und den anderen Jakobswegen, die durch Hof führen. Dusche und Toiletten sind über den Flur zu erreichen. Da sonst niemand im Haus ist, ist das kein Problem.

Zum heutigen Weg wäre noch zu sagen, dass der mächtig geschlaucht hat, da es mit 26 Grad ziemlich warm war und hier doch ein paar Berge übers Land verteilt sind. Das sind alles keine Riesen, aber es geht permanent hoch und runter. Von der ehemaligen Grenze ist nicht mehr viel zu sehen. Einen Wachturm und einen Kolonnenweg mit daneben liegenden Graben, der die Flucht mit Fahrzeugen verhindern sollte, habe ich entdeckt, aber an welcher Stelle ich „rübergemacht“ bin, kann ich gar nicht sagen. Irgendwann sahen die Dörfer nicht mehr so verlassen aus, wie die auf ostdeutscher Seite im Grenzgebiet. Da stehen einige Häuser leer und manche sind verfallen. Wenn da zu DDR-Zeiten jemand weggezogen oder verstorben ist, kamen ja keine neuen Bewohner hin. Dann verfiel halt das leere Haus.

Von Hof bekommt man zuerst ein großes Gewerbegebiet mit lauter Logistik-Unternehmen zu sehen, darunter Amazon. Dann geht es, zumindest auf dem Weg, den ich genommen habe, auf einer endlos langen Straße durch eine Einfamilienhaussiedlung die Stadt hinein.

Ich habe es heute mit der „vorgeschriebenen“ Streckenführung nicht so ernst genommen. Weischlitz, wo ich übernachtet habe, liegt eh etwas abseits vom Jakobsweg. Ich bin nicht auf kürzestem Wege wieder auf den Weg, sondern schräg auf diesen zugelaufen. Da viel früher als lt. GPS-Track die Muschel an den Bäumen auftauchte, scheint die Ausschilderung eh nicht genau dem Track zu folgen - oder umgekehrt. Vor Hof habe ich dann absichtlich einen anderen Weg gewählt, nämlich den vom Routenplaner des Smartphones empfohlenen, kürzesten Weg. Der andere wäre in nicht nachvollziehbaren Schleifen, teilweise direkt neben der Autobahn verlaufen. So bin ich vom (geografischen) Osten statt vom Norden in die Stadt gekommen. Hier musste ich mich erstmal zur Lessingstraße, wo die Herberge ist, durchfragen, da bei dem schlechten Empfang in der Karten-App kein Suchen möglich ist. Vier Damen an der Haltestelle haben mir erklärt, wo die Straße ist, und dass ich gleich über den Rathaushof abkürzen kann. Das war eine gute Idee, denn da wurde gerade ein Fest gefeiert. Der ganze Hof stand voller Biertischgarnituren, es gab Fassbier und Wurst zu Dumpingpreisen und eine 3-Mann-Schrammelband. Das war ein Empfang, wie ich ihn liebe!


Tag 8 (Donnerstag, 7.9.2023), Rückreise von Hof nach Berlin)

10.30 Uhr. Ich sitze im Zug nach Chemnitz (RE 3), weiter geht es über Leipzig (RE 6) und Dessau (RE 13) nach Berlin (RE 7). Um 9.27 Uhr bin ich in Hof losgefahren, 15.44 Uhr soll ich in Berlin Hbf. sein. Dann noch S-Bahn nach Ahrensfelde, das macht insgesamt 7 Stunden. Aber die Bahnfahrt macht Spaß, zumal der Zug nicht sehr voll ist und ich ein Vierer-Abteil mit Tisch für mich allein habe.

Vorhin ging es in Langsamfahrt über die eingerüstete Elstertalbrücke, wo man sehen konnte, dass die Trasse des zweiten Gleises bis runter auf die Brückenbögen ausgebaggert ist. Die Fahrt über die Göltzschtalbrücke habe ich leider verpennt, da ich die während der kurzzeitig bestehenden Internetverbindung die seit gestern Mittag eingegangenen Nachrichten gelesen habe.

Gerade wurde durchgesagt, dass die Vollsperrung des Chemnitzer Hauptbahnhofes auf den 25. September (bis Ende des Jahres) verschoben worden ist. Zum zweiten Mal Glück gehabt. Das erste Mal schon in Hof, wo ich ohne Kenntnis des Fahrplans kurz vor Abfahrt des Zuges ankam. Am Info-Schalter habe ich mir noch schnell die Fahrtverbindung ausdrucken lassen und dabei erfahren, dass der nächste Zug in Richtung Berlin eine andere Route nach Leipzig benutzt und auf dieser gerade eine Stellwerksstörung vorliegt.

Wenn man hier so durch die hügelige Landschaft mit den kleinen Dörfern zwischen den Wiesen und Äcker fährt, bekommt man Lust, beim nächsten Halt (das wäre jetzt Hohenstein-Ernstthal) auszusteigen und weiterzulaufen. Diese Woche hat einfach Spaß gemacht und die Anstrengungen des gestrigen Tages sind schon vergessen und werden heute Abend nach einem wohltuenden Wannenbad auch nicht mehr zu spüren sein. Ich hoffe, dass sich bald die Gelegenheit ergibt, noch ein Stück weiter auf der Via Imperii zu laufen, zum Beispiel von Hof nach Nürnberg (183 km). Dafür veranschlagt der Pilgerführer neun Tage, bei 30-Kilometer-Etappen, die in den Bergen sicher schwer fallen, sogar nur 6 Tage. Und wenn man es bis Nürnberg geschafft hat, dann ist nicht mehr weit bis Rom, einem bislang ignorierten Pilgerziel.

15.15 Uhr. Meine kurze Pilgertour geht zu ende. Ich sitze im RE 7 nach Berlin, der in einer halben Stunde am Hauptbahnhof sein soll. Ein paar Minuten Verspätung hat er schon, wenn es dabei bleibt, will ich mich nicht beklagen.

Es war insgesamt eine schöne, erlebnisreichen Tour mit lieblichen Landschaften, sehenswerten Kirchen und netten Menschen. Vielen bin ich nicht begegnet, in sieben Tagen nicht einem Wanderer! Aber die wenigen Leite, mit denen ich mehr als ein „Hallo“ wechseln konnte, waren dafür umso herzlicher: Herbert und Annelie in Schönfels, Ronny und Nadine in Weischlitz und der nette Wirt, der früher in Frankreich Antennen montiert hat und jetzt Bierflaschen verschenkt.

Die obige Textfassung des gesamten, aus täglichen Nachrichten bestehenden Reiseberichtes finden Sie hier.
Benedikt Eckelt
Leipzig - Hof
Unterwegs auf dem Jakobsweg entlang der Via Imperii
von Leipzig nach Hof
Gelaufen im August/September 2023. (195 km)

Wittenberg-Leipzig Hof-Nürnberg